Vor zwei Jahrzehnten hat der Politologe Bassam Tibi einen Begriff geprägt, um den bis heute stets von neuem gestritten wird: Leitkultur. Tibi meinte damit einen Wertekonsens, auf dessen Grundlage sich ein Zusammenleben von Ansässigen und Zugewanderten entwickeln könne. Als Pfeiler einer solchen Übereinkunft nannte er die Begriffe Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechte und Zivilgesellschaft.
Mit seinem neu eingeführten Terminus zielte Bassam Tibi auf eine Vorstellung von Identität, die gerade nicht auf deren herkömmliche Bestandteile der Nation, Ethnizität oder Religion zurückgreift. Ihm als Deutschem syrischer Herkunft war aufgefallen, dass besonders die wenig gebildeten muslimischen Migranten – nicht zuletzt als Reaktion auf die für sie fremde Welt – sich überaus stark mit ihrer ethnischen und religiösen Herkunft identifizierten. Sind diese Menschen nun mit einer Gesellschaft konfrontiert, in der nicht Ethnie oder Religion zuoberst stehen, sondern Normen der westlichen Zivilisation, so ist dies für beide Seiten schwierig und konfliktträchtig. Es treffen nämlich zwei völlig verschiedenartige Konzepte von Identität aufeinander.
Die Konstellation ist auf der einen Seite anspruchsvoll, bietet andererseits aber auch die Chance, unterschiedliche Selbstverständnisse in einen liberalen, pluralistischen Rahmen hinein zu integrieren. Indem die aufnehmende Gesellschaft den muslimischen Migranten diesen westlichen Wertezusammenhang als europäische Leitkultur vorstellt, hilft sie ihnen – so damals Tibis Hoffnung –, eine weiter gefasste, die multiplen Pluralitäten der westlichen Zivilisation akzeptierende Identität zu entwickeln.
Umdeutung zum Kampfbegriff
Was der Sozialwissenschafter Bassam Tibi mit seiner Leitkultur-Formel gerade nicht beabsichtigte, machte dann postwendend die Politik daraus: einen Kampfbegriff. Die so verstandene Leitkultur-Parole richtet sich gegen die Idee (die Rechten sagen verschärfend: die Ideologie) der Multikulturalität und fordert stattdessen von den Zugewanderten Assimilation. Bald war denn auch von „deutscher Leitkultur“ die Rede. Die links-grüne Seite wollte damit nichts zu tun haben. Sie argwöhnte, im Leitkultur-Begriff wirkten bloss die alten imperialistischen Reflexe.
Und da der Streit einmal entfacht war, geriet der ursprüngliche Zusammenhang des Leitkultur-Begriffs in Vergessenheit. Als politische Parole steht er zumeist für einen doppelten Anspruch (den man jeweils entweder vehement verfechten oder zurückweisen kann): den auf kulturelle Suprematie der aufnehmenden Gesellschaft und den auf Anpassung der Fremden. Die sich entgegenstehenden Positionen generieren fortwährend Stoff für epische Debatten. Das beobachten wir nun seit bald zwanzig Jahren.
Obschon mit anderen Absichten lanciert, ist Bassam Tibis Begriffskreation an diesem sich perpetuierenden Disput nicht ganz unschuldig. Wer Leitkultur sagt, provoziert unausweichlich die Frage, worin denn diese genau bestehe. Und selbstverständlich kann jede Umschreibung ihres Inhalts je nach Standpunkt als unzulässig verengt – etwa weil sie LGBTI-Rechte unterschlägt – oder aber als vereinnahmend – etwa weil sie das Christentum als Bestandteil der Leitkultur erwähnt – zurückgewiesen werden.
Gescheiterter Versuch zur Rehabilitation
Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière hat vor einigen Monaten – mithin schon im Vorfeld der Bundestagswahl – den Versuch gewagt, eine neue Leitkultur-Debatte anzuzetteln. Zehn Punkte stellte er zur Diskussion. Offenbar bemüht, die alten starren Fronten aufzuweichen, schickte er seinem Leitkultur-Katalog die ausführliche Anleitung für eine temperierte Lesart des Begriffs voraus: Leiten sei ja etwas Freundlicheres als das autoritative Anordnen, und Kultur meine etwas Fluideres als das eherne Normieren. Um dies zu unterstreichen, entwarf de Maizière seine in der „Bild am Sonntag“ vom 30. April 2017 veröffentlichten Zehn Punkte zur Leitkultur als lockere Sammlung von Konventionen, Bildungszielen, politischen Leitlinien und allgemeinen Wertvorstellungen. Es ist der Mühe wert, de Maizières Überlegungen in geraffter Form zu vergegenwärtigen:
Zur für Deutschland massgeblichen Leitkultur gehören
- der Handschlag und das offen gezeigte Gesicht;
- ein Verständnis von Bildung als Wert und nicht nur als Mittel zum Zweck;
- die Bereitschaft zur individuellen und sozialen Leistung;
- ein kritisches Geschichtsbewusstsein;
- die Lebendigkeit des grossen kulturellen Erbes Deutschlands und eine breite kulturelle Praxis;
- die christliche Prägung des Landes und eine faktische Pluralität von Religionen (Kirchen, Synagogen, Moscheen), die der Gesellschaft dienen und friedlich zusammenleben;
- zivile Konfliktregelung ohne Gewalt;
- aufgeklärter Patriotismus und überwundener Nationalismus;
- Zugehörigkeit zum Westen und Integration in Europa;
- kollektive Erinnerungen und verbindende symbolische Orte in Deutschland, unterschiedliche heimatliche Verwurzelungen.
Im Wahlkampf kommt den Parteien jede Gelegenheit zum Streit zupass, der Pro-bono-Versuch des Innenministers selbstverständlich nicht ausgenommen. Die alten Fronten stehen auch bei dieser neuerlichen Diskussion unverrückt. Stimmen für eine Leitkultur-Debatte kommen von der CDU-CSU sowie von der AfD; SPD, Grüne, Linke und FDP lehnen ein solches Ansinnen ab.
Aus liberaler Sicht ist eine Leitkultur-Debatte unnütz und schädlich. Das Grundgesetz genüge als Anleitung zur Integration; darüber hinausgehende Bestimmungen brauche es nicht. Die Kritik von Rot-Grün begründet sich vornehmlich mit der Meinung, wer „Leitkultur“ sage, äussere eine Herr-im-Haus-Haltung, welche die Rechte und Sensibilitäten der Zugewanderten missachte.
Auf der Befürworterseite sind die Gründe und Motive ebenfalls uneinheitlich. Den einen geht es offensichtlich darum, wenig integrationswilligen oder -fähigen Zugewanderten den Tarif zu erklären. Andere Unterstützer der Leitkultur-Idee wiederum glauben (darin der ursprünglichen Intention des Begriffs nahe), mit einem entsprechenden Konzept die Integration voranbringen zu können. Man wird Thomas de Maizières Diskussionsvorstoss in diesem Sinn verstehen dürfen.
In den Zehn Punkten kann man bei wohlwollender Interpretation durchaus den Versuch sehen, mit einer konsensfähigen Beschreibung von Integrationszielen die Grundlage für einen erfolgreichen Integrationsprozess zu liefern. Adressaten dieses Konsensversuchs sind die Akteure der aufnehmenden Gesellschaft und die Zugewanderten gleichermassen. Vieles, was de Maizières Programm als Diskussionsbasis vorschlägt, erscheint für sich genommen durchaus sinnvoll und tauglich.
Schwierigkeiten mit dem Kulturbegriff
Der Grund, weshalb auch dieser Versuch offensichtlich gescheitert ist – scheitern musste –, hat mit der Unfassbarkeit des Wortes Kultur zu tun. Diese einst vom Sprachalltag etwas abgehobene, eine Sphäre des Höheren beschreibende Vokabel wurde ab Mitte des vergangenen Jahrhunderts vom Sockel geholt und zum gewöhnlichen Wort herabgestuft. Dafür zahlt die Sprache allerdings einen Preis, der nicht vorgesehen war: den der fast grenzenlosen Beliebigkeit und weitgehenden Unklarheit des Wortes Kultur. Sein Bedeutungsgehalt verliert sich auf der einen Seite in immer abstrakteren, entleerteren Begrifflichkeiten. Kultur meint in diesem sozialwissenschaftlich inspirierten Wortgebrauch am Ende lediglich „ein System von Regeln und Gewohnheiten, die das Verhalten und Zusammenleben von Menschen leiten“ (Wikipedia). Gleichzeitig lebt im Sprachgebrauch auf der anderen Seite ein älteres, kulturphilosophisch unterlegtes Verständnis des Begriffs. Es meint mit Kultur eine auf reflektierten Haltungen und ästhetischen Formungen beruhende geistige Welt.
Im Begriff der Leitkultur kippt der Wortbestandteil „Kultur“ zwischen diesen beiden Verständnissen hin und her, ohne sich klar auf eine Seite zu schlagen. So schwankt der Ausdruck zwischen einer nicht wertenden Erfassung der „Regeln und Gewohnheiten, die das Verhalten und Zusammenleben von Menschen leiten“ und einer normativen Beschreibung dessen, was „reflektierte Haltung und ästhetische Formung“ ausmachen. Im ersten Sinn kann Leitkultur als eine Art sozialpädagogische Anregung oder Anleitung zur Integration erscheinen; im zweiten erhebt sie wertende Ansprüche, an denen Integrationsbemühungen zu messen sind.
Mechanismen der sozialen Integration
Angesichts sich mehrender Anzeichen unzureichender, teils auch offen verweigerter Integration hat das Thema politische Brisanz. Im sozialpolitischen Kontext ist der Begriff der Integration allerdings gefährlich unklar: Wie weit sollen Zugewanderte sich integrieren? Sollen die Ansprüche möglichst tief oder bewusst hoch angesetzt werden (etwa beim Erlernen der Sprache)? Setzt die Vorstellung des Integrierens den Akzent beim Sich-Einfügen der Zugewanderten, oder geht es primär um die Offenheit der aufnehmenden Gesellschaft? Leitkultur oder Willkommenskultur? Oder ist beides gemeint? Wenn ja, in welchen Gewichtungen und Bedingungsverhältnissen?
Operiert man in den komplizierten Mechanismen der sozialen Integration mit dem Begriff der Leitkultur, so verschiebt man die Gewichte auf die Seite der Anpassungsforderungen. Natürlich darf man das. Doch wer eine Leitkultur postuliert, sollte deren Zusammenhang mit der Vorstellung einer Unterordnung der Zugewanderten nicht vertuschen. Dieser Gedanke steht zwar dem entgegen, was ein Bassam Tibi und ein Thomas de Maizière unter Leitkultur erklärtermassen verstehen wollen. Doch der Leitkultur-Begriff funktioniert nun mal direktiv und lässt sich nicht auf partnerschaftlich frisieren.
Schade um die guten Absichten! Denn es ist wohl klar, dass Integration – als Leistung sowohl der aufnehmenden Gesellschaft wie auch der Zugewanderten – von allen Beteiligten Anstrengungen und Anpassungen verlangt. Gelänge es, sich hierfür auf gemeinsame Leitvorstellungen zu verständigen, wäre dies zweifellos von Nutzen. Die Suche danach sollte man sich allerdings besser nicht als harmonischen Diskurs vorstellen, der nach einem ruhigen Meinungsaustausch rasch ein klares und allseits gutgeheissenes Ergebnis hervorbrächte – womöglich gar eines, das dann gleich für mehrere Jahre Bestand hätte.
Permanente, nicht steuerbare Aufgabe
Nein, das wird ein bisschen schwieriger werden mit der Konsenssuche. Realistisch gesehen ist eine solche Verständigung eine permanente Aufgabe. Läuft es gut damit, so gelingt es, ein paar gemeinsame Orientierungspunkte herauszuschälen und im Übrigen bei strittigen Fragen im Gespräch zu bleiben. Und da ein solcher Prozess nicht hierarchisch-zentral durchgeführt werden kann, muss er überall da stattfinden, wo es Konflikte gibt. Die Ergebnisse werden – abhängig von den jeweils Beteiligten und den jeweiligen Umständen – keinesfalls einheitlich ausfallen.
Die Vorstellung einer Leitkultur wird diesem Pluralismus der Situationen nicht gerecht. Trotzdem ist es gut, wenn Orientierungsangebote wie de Maizières Zehn Punkte zur Diskussion gestellt werden. Die daraus hervorgehenden Anregungen können von Betroffenen übernommen oder verworfen werden. Sie tragen darüber hinaus zur allgemeinen Meinungsbildung bei und fördern in einem schwierigen Themenfeld eine Kultur des Diskurses.
Diskussionsvorstösse zur Identifizierung von Integrationszielen sind also zu begrüssen; sie sollten aber nicht den Anspruch erheben, eine Leitkultur zu definieren. In der Idee einer Leitkultur steckt die Versuchung, die schwierige Verständigung abzukürzen. Wie sich zeigt, klappt das schon deshalb nicht, weil es nicht gelingt, den Begriff der Leitkultur einvernehmlich zu füllen. Und selbst wenn dies doch irgendwann zu schaffen wäre, so brächte der mit Inhalten gefüllte Kulturbegriff die erstrebte Verständigung zwischen ungleichen Partnern von Anfang an in Schieflage. Denn wie soll das gehen, wenn die eine Seite zum vornherein das Ergebnis kennt? Einen solchen Dialog kann man sich schenken. Da schreitet man besser gleich zur Befehlsausgabe.
Der Begriff einer Leitkultur ist nicht zu retten. Er funktioniert im Kontext der sozialen Integration ganz einfach nicht. Weder ist er in konsensfähiger Weise konkretisierbar, noch taugt er zur Leitung der intendierten Verständigung. Dieses Scheitern auf der ganzen Linie kann nicht verwundern. Denn Kultur ist keine normative Grösse, kein strategisch verrechenbarer Faktor, keine Handhabe zur Erreichung vorgegebener Ziele. Was Kultur ist, wohin sie sich entwickelt, womit sie sich auseinandersetzt, welches neue Denken und Fühlen sie hervorbringt, das weiss man immer nur im Nachhinein. Das Kompositum aus Leiten und Kultur ist ein Widerspruch in sich selbst. Nun sind zwar Widersprüche in der Kultur immer wieder eminent fruchtbar. In der Politik sind sie es nicht.