Die schwarze Null der Staatsfinanzen sei ein Popanz, der fortschrittliche Politik ausbremse, heisst es nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz. Doch Schulden bleiben eine Last. Sie mitzuschleppen, kostet Kraft, die dann andernorts fehlt.
Kredite aufzunehmen, ist für Staaten attraktiv. Sie gelten zumeist als solide Schuldner und haben daher keine Mühe, Kreditgeber zu finden. Für Politiker, die sich für ihre Bestätigung im Amt dem Volk zur Wahl stellen müssen, ist die Finanzierung von Staatsaufgaben mittels Schulden eine verlockende Möglichkeit. Sie gestattet die scheinbar kostenfreie Erbringung staatlicher Leistungen: Modernisierte und zusätzliche Infrastrukturen, verbesserte Bildungseinrichtungen, eine zeitgemäss aufgerüstete Armee, Aufwendungen für Klimaschutz und andere Mehrinvestitionen ohne Steuererhöhungen zu stemmen, gilt vielen als eine geradezu selbstverständliche Forderung.
Im Wissen um diese Verlockung haben weitsichtige Politikerinnen und Politiker das Instrument der Schuldenbremse geschaffen. Die Schweiz war dabei ein Pionierland. Sie führte die Schuldenbremse am 2. Dezember 2001 in der Volksabstimmung ein; seit 2003 ist sie in Kraft und sorgt über die Konjunkturzyklen hinweg für ein Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben und so für eine stabil tiefe Staatsverschuldung.
Der Mechanismus der Schuldenbremse ist relativ kompliziert und stützt sich auf Schätzungen des zukünftigen Wirtschaftsverlaufs und der entsprechenden Staatseinnahmen. Das liefert viel Stoff für politischen Zwist. Die Finanzverwaltung prognostiziert naturgemäss in der Regel vorsichtig, während politische Akteure, die ihre Vorhaben finanzieren wollen, ebenso naturgemäss zu Optimismus neigen.
Seit einiger Zeit aber ist der Streit grundsätzlicher geworden. Es geht nicht mehr nur um die restriktivere oder lockerere Handhabung des Instruments, sondern um das Instrument selbst. Soll der Staat überhaupt in seinem Handeln gebremst werden? Droht er nicht dadurch bei nicht vorausgesehenen Herausforderungen am rechtzeitigen und entschlossenen Agieren gehindert zu werden? Und wird die Lösung von Problemen nicht später dann viel teurer, wenn diese wegen der Schuldenbremse nicht unverzüglich angegangen werden konnten?
Hinzu kommt eine neue Leichtigkeit im Umgang mit dem Thema Staatsverschuldung. Staaten seien nicht mit Privatpersonen oder Privatunternehmen zu vergleichen, wird man belehrt. Wichtigste Aufgabe des Staates sei es, für das Laufen der Wirtschaft zu sorgen, unter anderem mit tiefen Steuern. Hierfür könne er sich problemlos verschulden. Ein Staat gehe niemals bankrott, so lange er die Wirtschaft nicht abwürge. In die Rechtfertigung staatlichen Schuldenmachens wurde in jüngerer Zeit einiges an ökonomischem Scharfsinn investiert. Die Modern Monetary Theory, die das Thema sozusagen enttabuisiert hat, ist vor allem im linken Spektrum der Politik vielfach positiv aufgenommen worden; sie erntet jedoch von namhaften Ökonomen auch vehemente Kritik.
Auch Kritiker eines zu entspannten Umgangs mit Staatsschulden bestreiten allerdings nicht, dass bei unerwarteten Krisen wie der Corona-Pandemie massive staatliche Interventionen, die ausserhalb der regulären Budgets und der Schuldenbremse finanziert wurden, nicht nur sinnvoll, sondern unerlässlich sein können. Doch gerade damit der Staat solche Notfallaktionen überhaupt stemmen kann, sollte die Verschuldung in normalen Zeiten tiefgehalten werden.
Verteidiger des unbeschwerten Schuldenmachens wenden ein, die Apologeten der Schuldenbremse verstünden einfach die Wirtschaft nicht und dächten in den biederen Kategorien der sprichwörtlichen schwäbischen Hausfrau, die ihre Einnahmen und Ausgaben ins Büchlein schreibt und sich dem Diktat der schwarzen Null unterwirft.
Was jedoch nicht wegdiskutiert werden kann: Schulden müssen verzinst und amortisiert werden. Die entsprechenden Budgetposten sind in manchen Ländern mittlerweile von erdrückendem Gewicht und verdrängen genuine Staatsaufgaben. Und die Schuldendienste wachsen bei steigenden Zinsen unerbittlich, da Kredite ja irgendwann auslaufen und durch neue Schulden zu schlechteren Konditionen abgelöst werden müssen.
Für neue Schulden wird stets mit dem Argument plädiert, man befinde sich in einer Ausnahmesituation. Und genau dies ist der wohl schwächste Punkt der Argumentation. In jeder politischen Periode gibt es nämlich Aufgaben von riesigem Ausmass, die man nicht geplant oder die man lange übersehen hat. Krisen lauern oft unter der politischen Wahrnehmungsschwelle, und irgendwann brechen sie aus. Das ist dann der angebliche Ausnahmezustand. In Wirklichkeit ist es der Normalzustand. Auf diesen muss Politik sich einstellen: mit empfindlichen Antennen für Bedürfnisse, Probleme und Gefahren sowie mit sturmfesten personellen, organisatorischen und finanziellen Ressourcen.