Er betont, dass, wenn die Reform erst mal verabschiedet sei, alle Franzosen sagen werden: "Von nun an müssen wir uns um die Rente keine Sorgen mehr machen."
Jetzt aber hat nicht nur der bereits vierte landesweite Streik- und Protesttag in nur sechs Wochen alle Teilnehmerrekorde geschlagen. Nun sieht es plötzlich sogar so aus, dass die Streiks und Proteste andauern und ausufern könnten, selbst wenn die Reform in wenigen Tagen auch von der 2. Kammer, dem Senat, verabschiedet wird. Frankreichs Eisenbahner erinnern bereits an das Jahr 1995, als sie damals den ersten Anlauf zu einer Rentenreform durch wochenlange Ausstände gekippt hatten und sprechen von „möglichen Stellvertreterstreiks“. Die Gewerkschaftsspitzen kokettieren mittlerweile mit einer Basis, die sie angeblich immer schwerer im Zaum halten können.
Schon wird der Treibstoff knapp
Die Radikalisierung sei kein Risiko, sondern inzwischen eine Tatsache, sagte der Chef der grössten Gewerkschaft, CGT. Wenn elf von zwölf Erdölraffinerien des Landes die Produktion eingestellt und die Gewerkschaften auch dort für einen täglich erneuerbaren Streik votiert haben, der Erdölhafen von Marseille seit zwei Wochen blockiert ist und bald 100 Öltanker im Mittelmeer dümpeln und ihre Fracht nicht löschen können, dann ist Treibstoffknappheit in ein oder zwei Wochen nicht mehr auszuschliessen. Schon haben einige Tankstellen im Westen des Landes das Benzin rationiert. Vor den Raffinerien brennen die ersten Reifen und Holzpaletten. Und am Ende der Demonstrationen kommt es zu ersten Scharmützeln zwischen Polizei und Demonstranten. In Montelimar haben einige Dutzend Demonstranten das Büro des Bürgermeisters und Abgeordneten verwüstet. Die Chefin des französischen Arbeitgeberverbands klagt, der internationale Ruf Frankreichs erleide schwere Schäden.
Ganz besonders beunruhigt aber müssen Präsident Sarkozy und seine Regierung wegen der Tatsache sein, dass jetzt auch Frankreichs Jugend mobil macht. Studenten, vor allem aber die 15 bis 18 jährigen Gymnasiasten. An zehn Prozent der Gymnasien gab es schon Blockaden. Ihr Argument: Wenn die Älteren länger arbeiten müssen, haben wir, bei ohnehin schon 27 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, noch weniger Chancen, einen Job zu finden. Schülerproteste in Frankreich sind eine schwer zu kontrollierende Bewegung. Sie entsthen häufig spontan und laufen gerne aus dem Ruder. Damit sind sie für Präsident Sarkozy und seine Regierung ein zusätzlicher grosser Unsicherheitsfaktor.
Schüler – und Studentenbewegungen haben hierzulande in den letzten 20 Jahren drei Reformprojekte zu Fall gebracht. Ex-Premierminister de Villepin warnt, Frankreich gerate in eine Risikozone, man müsse dringend für Ruhe sorgen und einen Kompromiss finden. Sozialistenchefin Aubry warf der Regierung vor, sie verfolge eine gefährliche Politik der Konfrontation und der gesellschaftlichen Spannungen.
Diese Reform ist ungerecht
Im Frühjahr noch war für eine Mehrheit der Franzosen klar: Es muss angesichts der demographischen Entwicklung und des Riesenlochs in der Rentenkasse eine Rentenreform geben. Die Art und Weise aber, wie Präsident Sarkozy seine so genannte „Reform der Reformen“ im Eiltempo durchgepeitscht hat, ohne dass es eine echte, tiefgehende gesellschaftliche Diskussion und wirkliche Verhandlungen mit den Gewerkschaften gegeben hätte, hat zu einer klaren Verhärtung der Fronten geführt. In der Bevölkerung ist das Urteil eindeutig: Diese Reform ist ungerecht, sie trifft die Ärmsten und Schwachen am meisten – die Reichen kommen wieder mal am besten weg. Die Plakate mit dem Konterfei von Lilliane Bettencourt werden bei den Demonstrationen immer zahlreicher. Präsident Sarkozy ist in den Augen der Franzosen definitiv zum Präsidenten der Reichen und Superreichen geworden.
Keine Frage: Seit gestern haben die Proteste in Frankreich eine neue Dimension bekommen. Viele sprechen mittlerweile von einem explosiven Klima, und mancher im Land fragt sich sogar, ob die Verhärtung der Fronten und die Konfrontation nicht eine bewusste Strategie von Präsident Sarkozy sind, um das Land am Ende aus dem Chaos retten zu können und auf diese Weise die öffentliche Meinung gegen die Gewerkschaften aufzubringen.
Dabei wird die Gangart der Gewerkschaften gemäss der Meinungsumfragen seit Monaten von 70 Prozent der Bevölkerung unterstützt. Selbst wenn der Präsident die Rentenreform doch noch durchbringen und die Streikbewegung abflauen sollte, werden die Wunden bleiben. Und viele, die nicht mehr daran glauben, dass die Strasse die Rentenreform noch stoppen kann, sagen schon heute: Die Quittung für Sarkozy gibt es dann im Frühjahr 2012 - bei den Präsidentschaftswahlen.