Nach aussen hat er bereits gewonnen, aber seine Chancen für eine Wiederwahl 2012 sind höchst unsicher geworden. Die Gewerkschaften versuchen, diese Chance weiter zu unterminieren, obwohl die Rentenreform vom Parlament und vom Senat definitiv angenommen wurde. Auf den achten Aktionstag vom 6. November folgt Ende des Monats ein neunter. Aber die Einheitsfront der sechs grossen Gewerkschaften ist bereits wieder brüchig geworden, weil ihre Anhänger wegen des Lohnausfalls streikmüde geworden sind. Anstelle des demokratisch gewählten Parlaments würden sie jetzt eher ihre Führer desavouieren.
Fehlende Pädagogik
"Es gibt nicht nur Streiks in diesem Land", sagte endlich - aber wenig beachtet - ein Gewerkschafter mit Hinweis auf unterschiedliche Aktionen, die für den neunten Aktionstag erst noch erfunden werden müssen.
Der Streik und die Demonstration gehören in Frankreich zur revolutionären Mythologie, zu den unantastbaren Volksrechten. Zu dieser Mytholgie gehört auch - und das wird im Ausland als französische Unvernunft betrachtet - das Pensionsalter, das jetzt von 60 auf 62 Jahre heraufgesetzt wurde sowie die 35-Stundenwoche. Dem wäre vielleicht mit etwas mehr politischer Pädagogik auf Seiten der Regierung beizukommen. Aber nicht erst Sarkozy mangelt es daran. Ihm allerdings besonders stark.
Hoffnunglos unreformierbar?
Er wollte mit der neuen Rentenregelung, die wegen der Krise durch das Staatsdefizit aufgezwungen wurde, ein kleines Reformwerk schaffen, das ihm staatsmännisches Ansehen und Autorität im Hinblick auf 2012 verleihen sollte. Beides hat er dringend nötig.
Bisher galt vereinfachend, dass Frankreich wegen zu korporatistischer Interessen nicht zu wirklichen Reformen fähig sei. Den Gewerkschaften wurde vorgeworfen, erst zu streiken und danach dann vielleicht zu verhandeln - oder nachzugeben. Oft war es auch die Regierung, die nachgeben musste und eine weitere Reform landete auf dem Friedhof.
Den Regierungen kann man vorwerfen, aus Machtdünkel oder elitistischer Mentalität Reformen einer widerstrebenden Mehrheit aufzuzwingen, statt sie zu erklären und zu diskutieren. Diskutiert wurde über die Rentenreform mit den Gewerkschaften nur über marginale Fragen.
Dass aber bis in die Präsidentenpartei hinein die Massnahmen als ungerecht und - paradoxerweise - als unzureichend kritisiert wurden, schlug Sarkozy in den Wind.
Dazu kam, dass Parlament und Senat als Volksvertretung gegenüber der öffentlichen Meinung kläglich versagten, einschliesslich der linken Opposition. Auch der Arbeitgeberverband zeigte sich erst im Nachhinein dialogbereit.
Überraschende Jugend
In einer solchermassen blockierten Situation ist es verführerisch - und oft die einzige Möglichkeit - die "Macht der Strasse" gegen die "Macht der Urnen", das heisst gegen die präsidiale Mehrheit, auszuprobieren.
Diesmal stand die Mehrheit der Bevölkerung klar hinter den Demonstrierenden. Es kommt allgemein dazu, dass Worte wie Konsensus, Kompromiss, Liberalität oder Zentrum in Frankreich kein besonders hohes Ansehen geniessen. Und der Regierung wird nicht, auch nicht im eigenen Lager, wie etwa in Grossbritannien, grosszügig eine oder mehrere Legislaturperioden zugestanden, um ihre Kompetenz zu beweisen. Damit sind Konflikte unberechenbar, aber voraussehbar.
Sarkozys fragwürdiges Ziel war es, die Macht der Gewerkschaften zu brechen. Nicht jedermann ist Thatcher. Sarkozy ist es kläglich misslungen. Letztlich sind die Gewerkschaften bei nur maximal acht Prozent Mitgliederbestand (die überwiegende Mehrheit sind Beamte) eher schwach, was ihre Verhandlungsposition beeinträchtigt und sie dem Einfluss ihrer Extremisten und internen Rivalen ausliefert.
Sarkozy sah einmal provozierend eine falsche Zukunft: "Es wird gestreikt in Frankreich und niemand bemerkt es". Aber er rechnete nicht mit dem überraschenden Auftauchen der als apolitisch eingestuften Jugend, die sich wegen der Krise ihre eigenen Gedanken zur Rentenreform machte. Die Gewerkschaften übrigens auch nicht. Sie stellen sich auf den nur halbwegs uneigennützigen Standpunkt, dass die Streiks ihrer Beamten für die Qualität der öffentlichen Dienste und für die Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft, die nicht zu streiken wagen, geführt werden.
Kein "Mai 1968"
Das Ausufern des Streiks, namentlich mit den Jugendlichen, aber auch mit Berufsgattungen, die ganz andere Forderungen stellten, war für Sarkozy gefährlicher als der "Grundstreik", denn es lenkte von der Rentenreform ab und wurde unkontrollierbar.
Es ging schliesslich um ihn selbst direkt, um seinen Stil, gegen die Skandale und Affären, die ihm anhängen. Man warf ihm vor, die Reichen zu bevorzugen und vom Mittelstand immer mehr Opfer zu fordern. Sarkozy hat seine soziale Aura, mit der er sich seit 2007 verbal umgab, verloren. Er hatte es auch nicht verstanden, seinen gefügigen Premierminister Fillon als "Sicherung" (die Funktion eines französischen Premierministers) zwischen sich und dem Widerstandsblock einzuschrauben. Zur Korrektur bleibt ihm jetzt eine Regierungsumbildung Ende Monat. Zur Zeit ist er auf seine Stammwähler reduziert.
Beflügelte Kommentatoren hatten bereits einen neuen "Mai 1968" heraufbeschworen, obwohl die heutige Konstellation mit der blockierten Gesellschaft unter de Gaulle keinerlei Ähnlichkeiten hat (de Gaulle trat 1969 nach einem verlorenen Referendum zurück).
Selbst die unvermeidlichen vermummten jugendlichen Schläger konnten die Protestbewegung nicht diskreditieren, zumal die Polizei sehr wohl mit diesen "casseurs" umzugehen weiss und dabei aber offenbar nicht immer nur "Ruhe und Ordnung" verbreitet. 1968 war es ja gerade umgekehrt: die Gewerkschaften folgten schliesslich der Jugendbewegung.
N.B.
Das französische Wort für Streik, "grève", kommt von der mittelalterlichen "Place de grève" an der Seine (wo später auch das Stadthaus gebaut wurde), dem damals wichtigsten Hafen von Paris. Auf dem abfallenden Platz aus Kiesel ("gravier") und Sand sammelten sich frühmorgens arbeitslose Taglöhner, um einen Job (Ab- und Aufladen der Schiffe etwa) zu finden.
Der Sinn des Wortes hat sich dann in sein Gegenteil verkehrt. Zwischen 1995 und 2004 hatte Frankreich innerhalb der Europäischen Union nach Spanien am meisten Streiktage zu verzeichnen. Das Rätsel der Akzeptanz bleibt. Man muss mehrere Umfragen genau auswerten, um wirklich zu wissen, was die Mehrheit denken könnte. Wäre diesmal die Benzinknappheit schlimmer geworden, hätte leicht ein schneller Umschwung eintreten können. Die Gewerkschaften wussten dies und stoppten die Blockaden rechtzeitig.