Dabei ist es eigentlich gar keine Geschichte, sondern der Bericht über eine Entwicklung, die rechtens in die politischen Sparten der Zeitung gehört. Aber die Entwicklung, die ich hier registriere, nimmt für einmal eine positive Wende. Sie weckt Hoffnung und passt daher nicht in die Rubrik ‚Unglücksfälle und Verbrechen‘, zu der politische Berichterstattung seit langem mutiert ist.
Als ich vor fünf Jahren im ostindischen Bihar reiste, um Material für mein Indien-Buch zu sammeln, musste ich meinen Aufenthalt glatt auf einen Monat verlängern. Die Strassen waren in einem derart desolaten Zustand, dass jeder Ausflug, und sei er noch so kurz, mindestens einen halben Tag in Anspruch nahm. Busse gab es ohnehin keine, und die Züge waren so überfüllt, dass Billettschalter in Nebenstationen nur noch Tickets für eine Fahrt auf dem Waggon ausgaben, zu zwei Rupien der Platz auf dem heissen Blechdach.
Auf den Spuren Ghandis
Und jede Autofahrt wurde zu einem Slalomlauf um Krater herum, die manchmal so ausuferten, dass man auf das benachbarte Reisfeld ausweichen musste. Die Furcht vor platten Reifen war nur das Eine. Noch beklemmender wurde es beim fahler werdenden Tageslicht, wenn im Rauch der abendlichen Herdfeuer plötzlich ‚Checkposts‘ auftauchten, eine effiziente Form des Strassenraubs, bei der man um seine Barschaft erleichtert werden konnte.
Für mein Buchprojekt hatte ich mir die Routen von Mahatma Gandhi als roten Faden gewählt, die er achtzig Jahre zuvor auf seinen Reisen durchs Land eingeschlagen hatte. Ich stellte fest, dass ich mit meinem ,Ambassador‘ ungefähr gleich schnell unterwegs war wie der Fussgänger Gandhi. Es hatte den Vozug, dass ich das Land so erleben konnte, wie er es getan hatte; und feststellen konnte, dass sich in dieser langen Zeit wenig geändert hatte. Eine arme Frau hatte damals Gandhis Gattin Kasturba erklärt, sie könne ihren Sari nicht waschen, da es das einzige Kleidungsstück sei, das sie besässe. „Gib mir einen zweiten Sari, und ich wasche ihn jeden Tag“.
Achtzig Jahre später traf ich Frauen, die dasselbe sagen konnten. Was ich damals nicht tat, war, diese Fakten – Armut und Strassenzustand – miteinander zu verbinden. Ich erkannte nicht, dass Mobilität für ein armes Land noch wichtiger ist als für ein technisiertes Industrieland. Ich hätte es sehen müssen. Im Kreisspital von Bettiah rechnete mir damals ein Arzt vor, dass in Bihar jeder zweite Infektionskranke oder Verunfallte ohne zwingenden Grund sterben muss. Entweder ist es der lange Weg zum Krankenhaus, der ihm zum Verhängnis wird, oder er stirbt zuhause, in Ermangelung einer transportfähigen Strasse. Bauernfamilien leiden an Mangelernährung, nicht weil der Boden zu wenig Reis abwirft – Bihar ist eine fruchtbare Agrarregion -, sondern weil sie ihren Überschuss wegen schlechten Strassen (und Wegelagerern) nicht auf den Markt bringen. Kinder gehen nicht zur Schule, weil der Schulweg zu lang ist, und keine Busse fahren.
Die Wähler als Bürger ansprechen
Ein Jahr nach meinen Reisen in Bihar kam dort ein Politiker ans Ruder, der dies erkannt hatte. Nitish Kumar wurde zunächst deshalb gewählt, weil er an die Wähler über die Kastenschranken hinweg appellierte. Bihar war auch deshalb das Armenhaus Indiens, weil seine Politiker unverfroren die Kastenloyalität ausspielten. Die Wähler gaben Politikern ihrer Kaste den Vorzug, weil sie glaubten, dass er, einmal an den Schalthebeln der Macht, die knappen Güter staatlicher Patronage ihnen zufliessen liesse. Kumar rechnete ihnen vor, dass dies ein Nullsummenspiel war. Sobald einmal ein anderer Kastenpolitiker ans Ruder kam, würde dieselbe Politik ihnen tief ins Fleisch schneiden. Kumar wurde mit einer knappen Mehrheit gewählt.
Der Appell an die Wähler als Bürger hatte ihn an die Macht gebracht. Doch wie wollte er es fertigbringen, sie Alle zu ernähren, einzuschulen, zu heilen? Er setzte sich ein simples, um nicht zu sagen simplistisches Ziel: Strassenbau. In einem Staat mit der geringsten Zahl von Ärzten und Lehrern in ganz Indien, mit dem geringsten Fabrikbestand und Stromverbrauch – das Wahlsymboil der früheren Regierungspartei ist eine Lanterne – steckte er dreissig Prozent des Budgets ausgerechnet in den Strassenbau, und stattete sein Kabinett mit einem Bau-Ministerium aus.
Mädchen verlassen die Schule
Fünf Jahre später hat sich die Streckenlänge der geteerten Strassen von 384 auf 23990 Kilometer um das Sechzigfache multipliziert. Doch nicht nur dies: die Sterbeziffer ist gesunken, weil das Gesundheitssystem in Anspruch genommen wird, das Pro-Kopf-Einkommen hat sich verdreifacht, weil Güter auf den Markt kommen, und weil arme Bauern in der Zwischensaison in die Stadt pendeln können, um sich als Tagelöhner zu verdingen. Doch die erstaunlichste Wirkung zeigte sich in der Bildung: Zum ersten Mal gelang es dem Staat, die chronische Ausfallrate bei den Schülerinnen der Sekundarstufe massiv zu senken. Bereits im Lauf der ersten fünf Schuljahre verliess jedes zweite Mädchen die Schule; und beim Übergang zur Sekundarstufe war die ‚Drop-out Rate‘ noch höher gewesen.
Was war der Grund? War es die soziale Geringachtung der Mädchen? War es ihr Einsatz als Arbeitshand in der Familie und auf dem Feld? All dies. Aber die Erfahrung in Bihar brachte zwei weitere Erkenntnisse an den Tag: das Fehlen von Mädchentoiletten in den Schulen (bzw. keine Türen, kein Wasser, keine Diskretion); und der allzugrosse Zeitaufwand, um in die nächste Sekundarschule zu kommen, besonders akut bei den Mädchen, die am Morgen noch die Geschwister versorgen müssen, bevor sie in ihre Schuluniform schlüpfen können. Der Strassenbau löste das eine Problem, indem er die Wegzeit verkürzte.
Praktische Lösungen
Der Staat half nach, indem er den Kauf von Fahrrädern für Mädchen finanzierte, welche die ersten beiden Sekundarklassen bestanden hatten. Nach den ersten drei Jahren, zwischen 2006 und 2009, haben sich so 871‘000 Mädchen ein Velo verdient. Die Lösung des zweiten Problems, die Mädchentoiletten, war dann die logische Folge. Nun, da die Mädchen den langen Schulweg unter die Pedalen nehmen und in der Schule bleiben konnten, erhöhte sich der Druck auf die Schulbehörden, sich des leidigen Themas sanitärer Einrichtungen anzunehmen.
Selbst die Strassenräuber fielen der besonderen staatlichen ‚Wegelagerung‘ zum Opfer: die rasche Zunahme des Verkehrs, Polizeipatrouillen, die auch tatsächlich aufkreuzten, sowie die Einrichtung von Busrouten schufen genügend kritische Öffentlichkeit, um die ‚Checkposts‘ zu beseitigen. Eine grossmütige Amnestiegeste der Regierung führte zur Abgabe mehrerer Millionen illegaler Feuerwaffen.
Hat Nitish Kumar mit seinem Strassenprogramm und seinem Appell an die Bürger – Kaste hin oder her – auf die richtige Karte gesetzt? Die Antwort kam im November, als Neuwahlen anstanden. Kumars Parteien-Koalition gewann drei Viertel aller Sitze – für ein Land mit Mehrheitswahlrecht eine Sensation. Es führen viele Wege nach Bethlehem. Aber sie müssen begehbar sein, damit die drei Weisen rechtzeitig eintreffen.