Mit seinen Kolumnen im „Tages-Anzeiger“ trifft der Ökonom und alt Nationalrat Rudolf Strahm oft den Nagel auf den Kopf. Doch in seinem Beitrag „Aufstand von unten“ (27.12.2018) ist sein Unwille über das Establishment und die Eliten allzu pauschal: Die Anhänger der Populisten seien offensichtlich zu Recht wütend und unzufrieden, das Establishment hingegen mache praktisch alles falsch.
Haben sich die politisch Korrekten jemals gefragt, weshalb Blocher, Le Pen, Gauland, Salvini oder Trump „derart grosse Anhängerscharen mobilisieren können“, schreibt Strahm. Haben sie sich je für die tieferen Motive von deren Anhängern interessiert, lautet seine rhetorische Frage. Und sie wird, unausgesprochen, aber deutlich erkennbar, mit Nein beantwortet. Das ist nicht gerade fair vom wortgewaltigen Kolumnisten, denn viele Menschen, die sich nicht zur Elite zählen, aber von Strahm pauschal diesen zugeordnet werden, brüten oft über dieser Frage.
Sorge über langfristige Folgen der Migration
Gemäss Strahm ist der „idealistische Multikulturalismus bezüglich der langfristigen Migrationsfolgen ein Realitätsverhinderer“. Die Abwehr gegen die Migration rechtfertigt er damit, dass manche Menschen langfristiger denken als das Establishment und dessen Berufsdenker, denn jene fragten sich besorgt, wie unsere Gesellschaft in 20, 50 oder 100 Jahren aussehen werde, wenn die Zuwanderung aus dem arabischen Raum und aus Afrika unvermindert weitergeht. Eine Prognose auf 50 oder gar 100 Jahr ist aus meiner Sicht sehr gewagt, denn vor 100 oder vor 50 Jahren hätte niemand geahnt, dass die Schweiz und auch die Schweizer so sein würden, wie sie heute sind.
Zwischen 2007 und 2017 hat die ausländische Bevölkerung in der Schweiz nach Angaben des Bundesamtes für Statistik um eine gute halbe Million auf 2,1 Millionen Personen zugenommen. Der Grossteil der Zuzüger, 382’000, stammen aus Europa. Die Zuwanderung aus Schwarzafrika stieg in der gleichen Zeitspanne um gut das Doppelte auf 82’000 Personen. Dies vor allem infolge der Asylsuchenden aus Eritrea und Somalia, aber auch aus Äthiopien, dem Kongo, Kamerun, Nigeria und Togo. In allen Zahlen sind auch die Asylsuchenden sowie die anerkannten Flüchtlinge enthalten.
Weniger hoch ist die Zuwanderung in absoluten Zahlen aus den arabischen Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens. Deren Zahl ist zwischen 2007 und 2017 um das Doppelte auf 55’000 Personen angestiegen, vor allem wegen der vielen Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak. Es besteht also keine allgemeine Fluchtbewegung aus Afrika und den arabischen Staaten, denn die Flüchtenden stammen in ihrer Mehrheit aus Kriegsgebieten. Zudem kommt die grosse Mehrheit der Flüchtlinge aus Afrika und den arabischen Staaten nicht nach Europa, sie sucht Unterschlupf in den Ländern ihrer Region.
Zuwenig um die Verlierer gekümmert
Leichter nachvollziehbar und auch berechtigter sind die von Strahm erwähnten „Abstiegsängste der unteren Mittelschichten im Zeichen der Globalisierung und technischen Revolution“. Da zeigen sich das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), der Bundesrat und vor allem die bürgerlichen Parlamentarier als unsensibel und sehbehindert. Dass bisher die Mehrheit der Schweizer von der Personenfreizügigkeit eher profitierte, wird schwerlich zu widerlegen sein, aber dass ein Teil der Bevölkerung unter weniger sicheren Stellen und Lohndruck leidet, hätte man schon längst erkennen können. In diesem Bereich haben auch die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften zu lange über Probleme hinweggesehen.
Man kann jedoch die Schuld, dass viele Arbeitgeber in der Schweiz geradezu süchtig zu sein scheinen, ausländisches Personal einzustellen, nicht den meist billigeren und gut qualifizierten Zuwanderern in die Schuhe schieben. Die Rechtfertigung, diese seien eben qualifiziert und benötigten keine weitere Schulung, verliert an Überzeugungskraft, wenn wir ständig das Hohelied unserer hochwertigen Berufslehre mit den vielen Weiterbildungsmöglichkeiten singen.
Der Zorn über die steigende Zahl ausländischer Arbeitskräfte entlädt sich jedoch nicht an den Arbeitgebern, sondern an den Ausländern. Besonders krass ist das im Tessin, wo die Grenzgänger von Lega und SVP schlechtgemacht werden (Ratten, die sich am Schweizer Käse gütlich tun). Die Arbeitgeber aber sind keiner Kritik ausgesetzt, denn Unternehmer und Gewerbler, welche der Lega und der SVP nahestehen, haben selber viele Grenzgänger und Ausländer in ihrem Personalbestand. Diesen Widerspruch wollen viele Einheimische nicht sehen.
Auch Blocher und Co. sind Teil der Elite
Der Zorn der Anhänger der Populisten hängt laut Strahm auch mit der Identitätsfrage zusammen. „Die Entfremdung fängt an mit der elitären, akademisierten Sprache der Eliten, die man nicht versteht. Der politische Mainstream dreht sich um die Flüchtlinge, Genderfragen, sexuelle Minderheiten. Die hart arbeitenden Menschen in den Vorstadt-Hochhäusern und im Hinterland fühlen sich vernachlässigt“, schreibt Strahm.
Der gewiefte Politiker und klarsichtige Kolumnist hat gleichzeitig Recht und Unrecht. Recht insofern, als sich viele Politiker kaum um die Verlierer kümmern. Unrecht, weil zahlreiche Politiker Projekte unterstützen, die auch auf die Verlierer ausgerichtet sind. Eliten – das ist ein nebulöser Begriff, der nicht taugt, eine gewisse Gruppe Menschen für das schwindende Vertrauen eines bedeutenden Teils des Volkes verantwortlich zu machen. Denn auch ein Blocher oder ein Köppel sind Teil der Elite, auch wenn sie sich als die wahren Vertreter des Volkes wähnen.
Es gibt andere Gründe für Identitätsverlust
Der Identitätsverlust hängt meiner Meinung nach nicht in erster Linie mit der Zuwanderung zusammen. Viele Menschen fühlen sich in ihrem Dorf, in ihrer Stadt, ja in der Schweiz nicht mehr zu Hause, weil sich so vieles verändert hat: Dörfer und Stadtquartiere haben ihr Erscheinungsbild gewandelt. Das ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass vertraute Gebäude verschwinden mussten, weil eine erhöhte Nutzung der Grundstücke gesteigerte Erträge bringt. Zudem werden in Gemeinden, in welchen oft auch SVP-Politiker das Sagen haben, für schwerreiche Ausländer Grundstücke in bester Hanglage oder in Seenähe umgezont.
Dadurch wird die Landschaft dauerhaft beeinträchtigt. Weiter ist ein erbitterter Wettbewerb um die niedrigsten Steuern im Gang, was Ausländer und Firmen anlockt. Weiter wollen bürgerliche Politiker, dass künftig auch in geschützten Landschaften gebaut werden darf. All das kann man wirklich nicht den Zuwanderern anlasten.
Es schmerzt, dass eine sonst klarsichtige Persönlichkeit pauschal den Intellektuellen und Journalisten vorwirft, sie würden konservative Menschen als Rassisten, Isolationisten und Nationalisten abstempeln und diese verletzen. Einverstanden bin ich hingegen, wenn Strahm fordert, es brauche mehr Verständnis für die Anliegen der konservativen Wähler. Doch meiner Meinung nach genügt das nicht, es bräuchte mehr konkrete Unterstützung für die Verlierer der Globalisierung, welche Lohneinbussen hinnehmen müssen oder gar ihre Stellen verloren haben. Ob in diesem Zusammenhang die Herabsetzung der Sozialhilfe um bis 30 Prozent, wie das viele SVP-Politiker fordern, das richtige Mittel sei, ist höchst zweifelhaft.