Täglich fliessen mindestens 550 Millionen Dollar für Erdöl und Erdgas von Europa an staatlich dominierte russische Firmen. Die bisher von den Sanktionen nicht betroffenen Einnahmen finanzieren Putins Ukraine-Krieg. Diese Geldzufuhr muss sofort gestoppt werden – bis die Waffen schweigen!
Die von den westlichen Staaten nach der Ukraine-Invasion gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen gelten als hart und schmerzhaft. Ausgenommen von diesen Strafmassnahmen sind bisher jedoch die russischen Öl-, Gas und Kohle-Lieferungen nach Europa. Anders als die USA, Grossbritannien, Kanada und Australien sind die EU-Länder und die Schweiz vorläufig nicht bereit, auf diese Energielieferungen aus Russland zu verzichten. Begründet wird das vor allem mit dem Argument, dass der Erdgasverbrauch in Europa gegenwärtig noch zu 45 Prozent von russischen Lieferungen abhängig sei. Beim Erdöl- und Kohle-Verbrauch sind die russischen Lieferanteile geringer.
«Kurzfristig einschneidend, aber verkraftbar»
Doch insgesamt hätte ein sofortiger Stopp der russischen Energielieferungen zweifellos schmerzhafte Konsequenzen. Manche Stimmen warnen vor drohenden Stillständen bei Industriebetrieben, unbeheizten Wohnhäusern und höheren Benzinpreisen. Wie schmerzhaft ein umgehender Boykott von russischen Erdgas- und Erdölbezügen für Europa sich auswirken würden, wird aber höchst unterschiedlich eingeschätzt. In der NZZ hiess es unlängst, mehrere Studien seien zu dem Schluss gekommen, dass ein solcher Lieferstopp «kurzfristig einschneidend, aber verkraftbar wäre». Soziale Härtefälle und Verluste von schwer betroffenen Unternehmungen könnten kurzfristig durch staatliche Hilfsprogramme abgefedert werden. Dass dies machbar und finanziell tragbar ist, haben wir in der Schweiz und anderswo in Europa nach dem Ausbruch der Corona-Krise erfahren.
Für einen sofortigen Boykott russischer Energielieferungen spricht die Überlegung, dass der damit verbundene und laufend sprudelnde Zufluss von Euro-Milliarden die bereits verfügten Sanktionsmassnahmen wie die Einfrierung russischer Devisenreserven und Vermögenswerte im Westen radikal verschärfen würde. Dies hat in der vergangenen Woche auch Oleg Ustenko, ein Wirtschaftsberater des ukrainischen Präsidenten Selenskyj, in einem Beitrag für die «New York Times» betont. «Der beste Weg, um Putins Kriegsmaschine zu stoppen, ist die Unterbindung des täglichen Zustroms an harten Devisen», schrieb Ustenko. Die Energie-Exporte finanzieren mehr als 40 Prozent des russischen Staatsbudgets. Das würde auch bedeuten, dass Russland und die vom Kreml kontrollierten Energiekonzerne wie Gazprom oder Rosneft ihre Auslandskredite nicht mehr bedienen könnten und so möglicherweise in relativ kurzer Zeit Zahlungsunfähigkeit deklarieren müssten.
Mehr Druck für einen Waffenstillstand
Beweisen lässt sich das zwar im Moment nicht, aber einiges spricht dafür, dass die sofortige Abkoppelung vom laufenden Zufluss der Euro-Milliarden aus Europa Putin direkter als andere Massnahmen dazu bewegen könnte, zumindest einem umgehenden Waffenstillstand in der Ukraine zuzustimmen. Jeder konkrete Schritt, der zu einem überprüfbaren Unterbruch des Tötens und der Zerstörung führt, könnte mit einer gewissen Lockerung der finanziellen Druckmittel auf Seiten des Westens beantwortet werden. Solche Anreize wiederum dürften geeignet sein, das Interesse des Kremls an einer akzeptablen Kompromisslösung mit Kiew zu erhöhen.
Der blutige Krieg, mit dem Russland die Ukraine überzieht, wütet bereits seit einem Monat – und ein Ende ist nicht abzusehen. Deshalb müssen die Europäer jetzt handeln und den finanziellen Druck auf den Aggressor ohne weitere Wartemanöver sofort massiv verstärken. Das Instrument dazu ist die Unterbindung des laufenden milliardenschweren Eurozuflusses in die Kriegskasse des Kremls.
Übrigens hat Putin dem Westen inzwischen eine Art Steilvorlage zur Kündigung der laufenden Verträge für russische Energielieferungen serviert: In der vergangenen Woche verlangte er plötzlich, dass diese Lieferungen künftig in Rubel statt in Dollar bezahlt werden müssen. Offenbar beabsichtigt er mit diesem Entscheid, den stark gesunkenen Rubelkurs wieder in die Höhe zu treiben, weil die westlichen Gas- und Öl-Importeure gezwungen wären, riesige Rubelmengen einzukaufen. Rechtlich gesehen aber läuft Putins Forderung auf einen Bruch laufender Verträge hinaus, denn in diesen sind Bezahlungen in Dollar und Euro festgeschrieben. Beharrt Putin auf seiner Forderung, haben die westlichen Käufer einen guten Grund, diese Lieferverträge ersatzlos zu kündigen. Ein Boykott russischer Gas- und Öl-Lieferungen liesse sich damit umso leichter durchsetzen.
Natürlich wird es nach einem solchen Entscheid auch im westlichen Publikum nicht an Klagen und Kritik fehlen. Manche Autofahrer würden über höhere Benzinkosten jammern, Mieter und Wohnungsbesitzer über kältere Wohnungen oder steigende Heizkosten durch Ersatz-Erdgas aus andern Weltregionen. Einige Betriebe könnten vielleicht wegen fehlender Energielieferungen nicht mehr regulär produzieren.
Die Balten sind bereit, den Preis zu zahlen
Aber wären die Risiken für solche Beschwernisse und Einschränkungen nicht in Kauf zu nehmen, wenn Putin damit härter als bisher unter Druck käme, seinen mörderischen Krieg in der Ukraine zumindest durch einen Waffenstillstand zu unterbrechen und ernsthafte Verhandlungen zu beginnen? Die Regierung Selenskyj in Kiew richtet eine solche Forderung seit Wochen mit hoher Dringlichkeit an die Europäer. Haben wir wirklich überzeugende Gründe, dieser Forderung nicht entgegenzukommen? Oder praktizieren wir Solidarität nur dann, wenn sie uns nicht allzu viel kostet?
Die kleinen baltischen Staaten, die aus ihrer Geschichte und ihrer geographischen Nähe zu Russland besser verstehen, was im Kampf gegen Putins Aggressionskrieg auf dem Spiel steht, haben als Nato- und EU-Mitglieder entschieden für ein Energie-Embargo gegen Russland plädiert. Und dies, obwohl Estland, Lettland und Litauen wirtschaftlich abhängiger von russischen Gas- und Öl-Lieferungen sind als die Schweiz.