“Vielleicht ist sie hinter Dir her”, ruft eine Obstverkäuferin mit der Figur eines Sumoringers, mit Bizeps wie Basketbälle und Brüsten wie die Melonen, die sie vor ihrem Stand zu einer Pyramide aufgebaut hat, unter dem schallenden Gelächter der anderen Marktfrauen und deutet mit einem riesigen Büschel Bananen in der ausgestreckten Hand auf ihre Nachbarin, „plátanos machos“ (Machobananen). „Bei der “, sie umfasst ihre eigenen riesigen Brüste, „bei der hast du etwas, dich in der Nacht festzuhalten.“ Sie schüttelt sich vor Lachen und entblößt dabei eine Reihe glitzernder Zähne mit Gold- und Nickelkronen.
Anzüglichkeiten im Wahlkampf
Der Schriftsteller und ehemalige Senator Andrés Henestrosa behauptete einmal: „Die Frauen von Juchitán sind völlig zwanglos. Nichts kann sie in Verlegenheit bringen, und in ihrer Sprache – Zapotek – gibt es keine Unzüchtigkeit.“ So habe er einmal im Wahlkampf an das überwiegend weibliche Publikum appelliert: „Shinú!“ (Helft mir, euch zu helfen.) Da habe eine Frau seinen Redeschwall unterbrochen und schnippisch gefragt: „Hast du ‚shinú‘ gesagt, Andrés? Was willst du damit sagen? ‚Helft mir‘ oder ‚geht mit mir ins Bett‘. Wenn du Letzteres gemeint hast, dann will ich als Erste drankommen.“
Der Wahlkämpfer hatte den Vokal falsch betont. Eine Eigenart der zapotekischen Sprache ist die Dehnung des Vokals. Je nach Aussprache kann ein Wort zwei völlig verschiedene Bedeutungen haben. Nachdem er mit ihnen die ganze Nacht hindurch zum Rhythmus der Marimbas, Bongos, Tamboras, Flöten und Conchas den „Zandunga“ getanzt hatte, den Tanz der Zapoteken, waren die Frauen überzeugt, dass dieser jugendliche 84-Jährige ihre Stimme verdient hatte.
Ein Matriarchat im Macholand
In Juchitán , mitten im Macholand Mexiko, im Bundesstaat Oaxaca gelegen, herrscht heute noch das Matriarchat. Die Tochter des Hauses erbt, nicht der Sohn. Die Frau verwaltet das Geld, die Frau hat die Macht, sie ist die Händlerin, sie bestimmt die Preise, nur Frauen dürfen verkaufen. Die Männer gehen mit ihren Macheten und Strohhüten im Morgengrauen zur Arbeit, zur Leguanjagd, zum Fischfang oder aufs Feld. Wenn sie zurückkehren, liefern sie die Beute, den Fang oder die Ernte bei ihren Frauen ab, die die Ware in bunt bemalten Krügen und Schüsseln auf den Markt bringen. Wenn die Frauen alles verkauft haben, geben sie ihren Männern Taschengeld für Zigaretten und Schnaps.
So haben sie schon immer gelebt, und daran soll sich auch nichts ändern. Doch seit einigen Monaten müssen sich die Leute von Juchitán gegen die Tätigkeit der spanischen Gas Natural Fenosap wehren, die ausgerechnet an der Laguna Superior del Golfo de Tehuantepec eine Industrieanlage bauen will. Dort aber fischen die Männer und bauen Mais an. Also errichteten sie Straßenbarrikaden, dass die Arbeiter und Lastwagen des Unternehmens nicht durchkamen und die Männer nicht mehr bei der Arbeit störten . Als vor wenigen Tagen die Polizei anrückte, um die Barrikaden zu beseitigen, waren es die Frauen, die den Polizisten mit Steinen, Stöcken und Flaschen eine erbitterte Schlacht lieferten und sie schließlich vertrieben. Und anschließend rissen sie auf dem Markt wieder ihre Witze, diesmal über „Bubis“ mit „platanos enanos“ (Zwergbananen), und klopften sich auf die Schenkel.
Die Vorzüge eines schwulen Sohnes
In Juchitán haben die Bäume ein Herz, die Leguanjäger einen „pito dulce“, die Fischer einen „pito salado (ein süßes oder salziges Geschlechtsorgan), und die Frauen sind stolz darauf, Frau zu sein, weil sie zwischen ihren Beinen die Erlösung für all die pitos tragen – ob süß oder salzig – und jeden seinem ihm zustehenden „kleinen Tod“ ausliefern, wie sie hier den Liebesakt nennen, weil sie glauben, dass der Partner bei jedem Liebesakt „ein bisschen stirbt“.
Der 15. Geburtstag ist das größte Fest im Leben einer Heranwachsenden in Juchitán. Dann wird sie eine „reina“, eine Königin. In Juchitán ist jede Frau eine Königin. „Mehr Glück beim nächsten Mal“, trösten sich Frauen, wenn sie das Pech haben, einen Sohn geboren zu haben. Und hoffen: „Vielleicht entpuppt er sich ja als Schwuler.“ Anders als im restlichen Mexiko ist in Juchitán die Männerliebe sehr verbreitet und akzeptiert. Männer kleiden sich wie Frauen, legen Make-up auf, maniküren sich die Fingernägel, verrichten Frauenarbeiten, und niemand nimmt daran Anstoß. Im Gegenteil: Ein homosexueller Sohn ist ein Segen, hilft er doch bei der Hausarbeit und wird nie das Haus verlassen. Töchter heiraten irgendwann einmal in das Haus ihres Mannes. „Gott pflanzt die Hitze eben in verschiedene Körperöffnungen, das ist alles“, erklärt eine Einheimische die unterschiedlichen Präferenzen.
„Das Gerümpel des Filous“
Zwar gab Juchitán der Revolution zehn Generäle und 1000 Männer, und als Präsident Alvaro Obregón im Oktober 1920 dorthin kam, rühmte er den Mut seiner Bewohner: „Es gibt in der ganzen Republik keinen Friedhof, auf dem nicht ein Juchiteco liegt, der für die Sache gefallen ist.“ Doch bis heute gelang es weder dem Aztekenreich noch der spanischen Kolonialmacht oder den darauffolgenden Präsidenten des Landes die Juchitecos den geltenden Normen zu unterwerfen.
Die Spanier zwangen ihnen den katholischen Glauben auf. Dabei hatten sie doch schon ihre Götter: Coqueelaa, den Gott des Reichtums, Leraa Huila, den Herrn der Hölle, Nohuichana, die Göttin des Wassers und der Fische, es gab einen Gott der Kirschen, des Mais‘, des Wilds und viele Götter mehr. Und sie priesen ihre Götter auch weiterhin, neben den christlichen Heiligen, vergleichbar den afrikanischen Kulten des Voodoo in Haiti oder der Santería in Kuba. Inzwischen haben sie sich einem Gemarterten ergeben und tragen Kreuze, Hostiengefäße, Monstranzen und Kandelaber in Prozessionen aus der Kirche. „Das Gerümpel des Filous“ nennen sie respektlos diese Utensilien der katholischen Liturgie.
1850 beschrieb der immer in korrektem Schwarz gekleidete Gouverneur von Oaxaca, der spätere Präsident Benito Juárez –selbst ein Zapoteke – die Juchitecos: „Sie sind aufsässige Unruhestifter, unregierbar, unordentlich, ungehorsam und unzüchtig.“ Im selben Jahr noch erklärte der Senat des Staates Oaxaca die Leute von Juchitán zu „Gesetzesbrechern“, weil sie „schamlos Exzessen frönen, die vom Gesetz verboten sind.“ Bis heute sind sie so geblieben.
Die Unschuld vom Lande
Dabei bedeutet sexuelle Natürlichkeit in Juchitán nicht sexuelle Zügellosigkeit. In den zwanziger Jahren fotografierte der sowjetische Filmregisseur Sergej Eisenstein die Frauen von Juchitán in ihren Hängematten, die Brüste stolz entblößt. „Bei diesem Anblick verfolgt dich die Vorstellung, dass der Garten in Eden nicht irgendwo zwischen Euphrat und Tigris lag, sondern selbstverständlich hier, zwischen dem Golf von Mexiko und Tehuantepec“, notierte der Kinomeister in seinem Tagebuch. „Diese natürliche, unschuldig-offene Haltung, bar jeder falschen Scham, die sich so sehr von der bigott-frömmelnden, antiseptisch-sauberen Würde der Mexikanerin unterscheidet“ – so die mexikanische Schriftstellerin Elena Poniatowska – hatte schon den Heiligen Vincenz davon abgehalten, in Juchitán eine Kirche zu errichten. In einem Ort, wo es weder Einschränkungen noch Gefahren gibt, schien dem Heiligen der Bau eines Gotteshauses überflüssig, weil die Menschen hier unschuldig seien.
Die Frauen können alles sagen, solange sie es nicht in die Tat umsetzen. So kokettieren sie mit kecken Anspielungen. Aber sie bleiben bis zur Hochzeit unberührt und später ihrem Mann unverbrüchlich treu (immerhin meistens). Sollte ein ahnungsloser Bräutigam eine Frau zum Traualtar führen und anschließend feststellen, dass sie ihre Jungfräulichkeit bereits zuvor verloren hatte, kann er sie an die Eltern zurückgeben – sehr zur Schande des Vaters. Darum raten die Mütter ihren Töchtern: Wenn dich ein Mann berührt, dann häng‘ dich an ihn. Lass alle wissen, was er getan hat, und wer er ist. Auf diese Weise bist du vor den Leuten nicht entehrt.“
Andere Männer
Verlässt ein Mann aber seine Frau, dann ist sie völlig frei. Dann kann sie Bier brauen oder verkaufen, sie kann mit den Kunden ins Bett gehen oder nicht, sie kann dafür Geld verlangen oder nicht – wie es ihr beliebt. Witwen allerdings müssen ihrem Gatten für lange Zeit über seinen Tod hinaus treu bleiben. Will eine Witwe ihr Treuegelübde, das sie an ihren toten Ehemann bindet, lösen, muss sie ein traditionelles Ritual einhalten.
Sie geht auf den Friedhof, legt sich auf das Grab, presst ihren Leib gegen die Erde und spricht mit dem Verschiedenen: „Du sollst wissen, dass ich mit einem anderen Mann schlafen werde. Ich habe dir bis heute gehört. Aber heute Nacht werde ich Dir nicht mehr gehören.“