Jeden Tag ist mein Freund Norbert, der Fotograf, mit seiner Kamera, einem simplen Handy, im Oberengadin unterwegs. Oft erhalte ich seine ersten Bilder schon am Vormittag, kaum ist die «rosenfingerige» Morgendämmerung erwacht.
Von Norbert Bruggmann (Fotos) und Dieter Imboden (Text)
Norbert scheint hier jeden Baum, jeden Stein am See, jedes Gebäude und jedes Strässchen zu kennen. Er hat einen besonderen Blick für das Unauffällige, für die leisen Töne, findet seine Motive überall, nicht nur in der Einsamkeit der verschneiten Natur, über der Eisfläche der Oberengadiner Seen oder am Ufer des träge dahinfliessenden Inn, sondern auch mitten im Getümmel der zu den Bergbahnen hastenden Touristen, in den vergessenen Hinterhöfen, an Strassenrändern und Hausfassaden.
Auf meinen Wanderungen ertappe ich mich immer wieder beim Gedanken, was wohl Norbert fotografieren würde und wie, um Leserinnen und Lesern das besondere einer Landschaft oder einer Siedlung zu vermitteln. Im Sommer 2021 war ich mit ihm zwei Tage unterwegs, vom Engadin über den Malojapass hinunter ins Bergell, am nächsten Tag in der Umgebung von Chiavenna. Kürzlich habe ich mit Norbert und seiner Frau Barbara einen Spaziergang durchs Oberengadin gemacht, durch den Wald westlich von Champfèr, am kleinen Friedhof vorbei, der sich zwischen die schlanken Lärchen und behäbigen Arven duckt, ans Ufer des Ley da Champfèr zur Buocha d’Sela, dem Mund (Ausfluss) der La Sela, wie der Inn hier und bis in die Ebene von Samedan eigentlich heisst.
Wir hatten viel zu bereden, über das Leben und Altwerden, über die leidige Politik, über das Schreiben und Fotografieren, aber wir haben kein einziges Foto gemacht, weder er noch ich. «Fotografieren kann man nur allein, man braucht dazu Ruhe und viel Zeit. Sehen kann man nur in der Stille. Ich brauche Zeit, bis ich die Motive entdecke – oder genauer: bis sie mich entdecken», sagt Norbert.
Also habe ich nach unserem Treffen Norbert gebeten, mir einige «Bilder der Stille» aus der Umgebung seines Wohnorts Sils zu schicken, welche im Winter auf jenen Spaziergängen entstanden sind, als die Zwiesprache zwischen Objekt und Betrachter ungestört blieb. Zusammen haben wir eine Auswahl getroffen. Daraus ist eine kleine Geschichte entstanden.
Alle Fotos © Norbert Bruggmann