Das winterliche Sonntagsvergnügen der Bauern in den Dörfern meiner Umgebung sind Ochsenrennen. Die Strände von Alibagh sind breit, und jeden Sonntag und bei Ebbe höre ich aus der Ferne ein dumpfes Getrampel und die Schreie junger Männer, die manchmal zu Dritt auf den Wagen sitzen, ihre Tiere antreiben und acht geben müssen, dass im Pulk von zwanzig Gespannen die Rädernaben nicht aneinandergeraten.
Doch dieses Jahr ist Ruhe eingekehrt. Zuerst hatte das Obergericht in Bombay die Rennen als Tierquälerei taxiert, und als dies nichts nützte, bestätigte das Oberste Gericht in einem Berufungsverfahren den Befund. „Tierquälerei?“, fragte mein Freund Srinivas Bhagat verächtlich und zeigte auf die zwei Ochsenpaare in seinem Hinterhof: Weiss wie Schnee, die prächtigen Hörner eingeölt, vor sich eine lukullische Mahlzeit von Weizenkörnern, mit Stroh und Rohzucker vermengt. Renn-Ochsen sind die Vorzeige-Limousinen der reichen Bauern von Awas. Sie kosten bis zu 400'000 Rupien das Paar – fünfmal das durchschnittliche Jahressalär eines Inders. Und ihr Leben lang leisten sie keine Stunde ehrliche Arbeit, es sei denn ein bisschen Lauftraining.
Die Natur unterwerfen
Nun hat es die Bauern in Tamil Nadu erwischt. Dort endet das religiöse Pongal-Fest – Reis und Milch werden verkocht und das Mus wird der Erntegottheit dargeboten – mit Jallikattu-Veranstaltungen. Ein Stier wird in die Arena getrieben, die aus nichts als einem dichtgedrängten Ring junger Männer besteht. Aus deren Kreis löst sich ein mutiger Kerl nach dem andern und versucht den Stier mit blossen Händen in die Knie zu zwingen oder zu reiten. Er klammert sich an dessen Höcker fest, nimmt die Hörner in den Griff oder packt das Tier am Schwanz und lässt es um sich drehen, bis es müde wird und einbricht.
Es ist ein archaischer Brauch unter den tamilischen Bauernkasten, ein Initiationsritual für junge Männer, aber auch, so der Journalist Amrith Lal im Indian Express, die Kehrseite der archetypischen Auseinandersetzung mit der Natur. Während die Darbietung der Pongal-Speise den Dank für die Geschenke der Natur ausdrückt, zeigt der Zweikampf mit dem Stier, dass die Natur hart und gefährlich ist. Wie in den alttestamentlichen Mythen, die ja auch bei uns bis heute nachwirken, ist der Mensch herausgefordert, sie sich zu unterwerfen.
Ausnahmeregelung vor den Wahlen
Vielen Tierschützern ist der Stierkampf ein Dorn im Auge und stellt eine Verletzung des Tierquälerei-Gesetzes dar. Vor anderthalb Jahren klagten der autonome staatliche Animal Welfare Board und die private NGO Peta beim Obersten Gericht. Dieses gab ihnen recht und verbot Jallikattu. Dieses Jahr würde der Bann erstmals in Kraft treten.
Doch der Sport ist, nicht zuletzt dank dessen enger Verbindung mit dem wichtigsten Fest der Tamilen, überaus populär. In einigen Monaten finden im südindischen Bundesstaat Wahlen statt, und keine Partei oder Regierung wagt es, den Zorn der Wähler herauszufordern. Auf Drängen der Lokalregierung in Chennai gestattete die BJP-Regierung in Delhi für dieses Jahr eine Ausnahmeregelung. Sie liess zudem durchblicken, dass sie eine Verfügung in Betracht zieht, die das Verbot endgültig unterlaufen würde.
Die Regierung, in die Ecke getrieben
Doch nun war die ‚Majestät des Rechts’ herausgefordert. Das Oberste Gericht war nicht erbaut über dieses opportunistische Zurechtbiegen von Gesetzen. Falls den Politikern die geltende Rechtsordnung nicht passe, stehe es ihnen frei, diese per Parlamentsbeschluss ändern; aber es sei unzulässig, sie mit Notrecht auszuhebeln. Die Regierung sah sich in die Enge getrieben, denn angesichts der lautstarken Heiligsprechung der Kuh durch die BJP würde Herr Modi das Gesicht verlieren, wenn er die Tierquälerei-Paragraphen für ihren männlichen Partner nun verwässert.
Man kann dem Gericht recht geben und sich freuen, dass religiös drapierter Populismus nicht jedesmal gewinnt. Aber ich muss zugeben, Sympathie für das Dilemma der Politiker zu haben. Einerseits verabschieden sie in Delhi Gesetze, die der Idee eines modernen Rechtsstaats verpflichtet sind, einschliesslich Menschenrechte und der Schutz von Tier und Natur. Anderseits sollen sie in das harte Gestein von Kastentraditionen und religiösen Bräuchen beissen, in denen fragwürdige soziale und umweltschädigende Praktiken immer noch die individuelle und kollektive Identität mitbestimmt.
Fairer Wettkampf zwischen Mensch und Tier
Beim Jallikattu-Sport stellt sich zudem das Problem der Verhältnismässigkeit. Verglichen mit dem spanischen Stierkampf ist Jallikattu ein fairer Wettkampf zwischen Mann und Tier, ohne den geringsten Einsatz von Waffen. Er gleicht mehr einem Rodeo als einer Corrida. Wenn jemand am Ende stirbt, ist es immer der menschliche Herausforderer, von Hörnern erstochen oder von Hufen zertrampelt. Doch wenn er siegt, reitet er mit dem Stier aus der Arena. Gewiss kommt es auch zu Missbrauch, etwa Knallkörpern, die in den Schwanz gebunden werden, oder dem Füttern von Rauschmitteln vor dem Kampf. Aber sie sind verpönt, denn sie nehmen dem Glorienschein des Siegers seinen Glanz.
In einigen Wochen ist bereits der nächste Stierkampf zwischen Politikern und Gerichten angesagt. Gefordert sind diesmal die Politiker aus Kerala. Millionen von Malayali-Männern in schwarzen Hemden pilgern jedes Jahr in die Hügelregion von Periyar, wo der Ayyappa-Tempel von Sabarimala liegt.
Frauen ausgeschlossen
Ayyappa ist eine Inkarnation Shivas, der fleischlicher Lust abgesagt hat und ledig geblieben ist. Um ihn nicht in Versuchung zu führen, dürfen Frauen im Alter zwischen zehn und fünfzig den Tempel nicht betreten. Unter ihnen könnten ja auch Personen sein, die ihre Monatsblutung haben – und Menstruationsblut wäre, wie lose getragenes Haupthaar, eine unerträgliche sexuelle Herausforderung für den Mann im Gott.
Die Tempelpriester, meist Namboodri-Brahmanen, haben bisher alle Versuche einer Lockerung des Zugangsrechts erfolgreich abgewehrt. „Wenn es einmal eine Reinheitsmaschine geben sollte, die anzeigt, wann eine Frau ihre Blutungen hat, dann lassen wir mit uns reden’, erklärte der Hohepriester von Sabarimala kürzlich einem Fernsehkanal.
"Happy to Bleed"
Doch nun hat sich einmal mehr das Oberste Gericht zu Wort gemeldet, nachdem die Frauensektion der Nationalen Kammer Junger Anwälte gegen den Brauch geklagt hat. Woher denn eigentlich der Brauch stamme, wonach Frauen dem Gott nicht ihre Ehrerbietung zeigen können? fragte das Gericht. Gibt es alte religiöse Texte dazu? Oder ist der Brauch die Folge einer modernen Frauenphobie, Ausdruck männlicher Ängste angesichts der Emanzipation der Frauen? Die Richter versprachen, sich demnächst autoritativ dazu zu äussern.
Die Priester und viele Männer – beide Kategorien sind weitgehend kongruent – haben solche blasphemischen Fragestellungen voller Abscheu zurückgewiesen. Und wie nicht anders zu erwarten, erhielt der Präsident der Anwaltskammer Todesdrohungen. Islamische Mullahs haben sich den Hindus angeschlossen und liessen verlauten, Frauen blieben ohnehin besser zuhause, um ihrer eigentlichen Lebenspflicht – der Reproduktion – nachzukommen. Dies hindert Frauen nicht daran, gegen solche archaischen Tabus Sturm zu laufen. Im Facebook gibt es neuerdings eine Seite, die Frauen demonstrieren lässt, dass der Menstruationszyklus eine lebensbejahende organische Funktion ist. Sie nennt sich Happy to Bleed.