Der Tod selber beschäftigte ihn nicht. Der Tod erschien ihm eindeutig, klar definiert und umgrenzt, kein Feld für fantasievolle Vermutungen und Spekulationen – zumal er nicht daran glaubte, dass es nach dem Tod noch irgendetwas gäbe. Das Universum mit seinen hundert und aberhundert Welten bietet, so dachte er, keinen Raum für gedanklichen Firlefanz. Problematisch war für ihn das Sterben, der Vorgang des Sterbens, auf welche Weise es sich in seinem Fall ereignen, auf welche Weise er es sich wünschen würde. Kurz und schmerzfrei. So wünscht es sich jede und jeder. Kurz und schmerzfrei. Zum Beispiel im Schlaf. Friedlich zu Bett gehen und nicht mehr aufwachen. Das, so dachte er, wäre schön. Freilich läge dann anderntags Vieles unerledigt auf dem Tisch oder im Büro: Rechnungen, unterbrochene Verhandlungen, angefangene Projekte, Streit mit der Gattin, den Kindern, den Kunden. Aber alles das würde ihn nicht mehr bekümmern, war Sache der Hinterbliebenen. Die konnten sich dann darüber in den Haaren liegen. Er würde weg sein, endgültig weg, nicht mehr ansprechbar. Herrlich! sagte sich Sormann. Kurz und schmerzfrei. Aber so wird es einem ja selten geschenkt, sagte er sich. Zuteil wird einem meistens anderes. Ein Schlaganfall zum Beispiel, der ihn gelähmt ans Bett binden würde? Von einer Sekunde zur andern im Bett, ohne dass er, der noch Sport trieb, sich bewegen könnte. Gelähmt, aber noch sehenden Auges und hörenden Ohres! Sprachlos mit ansehen müssen, wie man zwei Mal im Tag seinen Leib von der unkontrollierbar aus ihm heraus fließenden Kacke reinigen würde. Mit anhören müssen, wie er den Familienmitgliedern zur Last fiel, wie sie seinen Tod herbeiwünschten. „Es wäre eine Erlösung“, würde er sie sagen hören. Eine Erlösung für wen? Oder tage-, wochen-, monatelang von Schmerzen gepeinigt werden? Sormann konnte – das musste er sich zu seiner Schande eingestehen – Schmerzen nicht leiden. Oder in Demenz verfallen. Davon würde er wenigstens nichts merken. Doch würde er auch da den Hinterbliebenen zur Last fallen. Zuerst physisch, später, nachdem sie ihn in ein Heim geschafft hätten, finanziell. Manchmal dachte er, Dürrenmatt hatte Recht, als er schrieb: „Gott schuf die Welt ohne zu denken. Sosolala.“ Was gab es sonst noch für Sterbensarten? Krankheiten, die einem die Lebensfreude rauben aber den Tod nicht herbeiführen. Als er jung war, hatte sich Sormann vorgenommen, sich eine Kugel durch den Kopf zu schießen, wenn es dazu kommen sollte. Aber im Alter, das wusste nun Sormann, tut man das nicht. Erstens, weil man sich trotz allem und gegen jegliche Vernunft weiterhin ans Leben klammert, und zweitens weil keine Waffe zur Hand ist. Es gibt Ausnahmen. Ein Freund Sormanns entschied eines Tages, nachdem er jahrelang ein schmerzhaftes Krebsleiden mit Operationen, Radiotherapie, Chemotherapie, Opiaten und das gut gemeinte Trostgerede des Spitalpfarrers erduldet hatte, dass er sich der neuesten auf den Ärztemarkt gekommene Medizin nicht mehr unterziehen, sondern abdanken wollte, obwohl sein Onkologe ihm gesagt hatte, er würde in diesem Fall nur noch wenige Tage zu leben haben. In der verbleibenden Zeit lud er zum Abschied seine Freunde zu sich ins Spitalzimmer ein, auch Sormann, ließ von seiner Gattin Austern und Kaviar servieren, dazu auserlesene Weine aus seinem Keller, die er über die Jahre hinweg kenntnisreich und mit Liebe gesammelt hatte. Nach sieben Tagen starb er zufrieden und froh. Seine Frau versicherte, sie habe ihn in all ihren Ehejahren nie so glücklich und fröhlich gesehen wie in diesen letzten paar Tagen. Schön. Aber nicht jeder kann sich so viel Austern und Kaviar leisten oder hat eine Gattin, die das auf Erbe in Aussicht stehende Geld so bereitwillig in einen fröhlichen Tod ihres Gatten möchte investieren wollen. Aber „mir wei nid grüble“, wie man in Bern so schön zu sagen pflegt.
Sterbensarten
Gustav Sormann befand sich in dem Alter, in dem der Mensch beginnt, sich Gedanken über das eigene Sterben zu machen.