Die einen bedienen sich ziemlich ungeniert verschiedener theoretischer Einzelteile, aus denen sie ihre Erklärungen zusammenbasteln und mittels Experimenten testen. Die andern geben sich erst mit einer einheitlichen Grosstheorie zufrieden, die alles bisher Erklärte in sich vereint. Als Designer fühlen sie sich weniger Experimenten als ästhetischen Kriterien verpflichtet.
Stephen Hawking, der kürzlich verstorbene berühmte Cambridger Astrophysiker, gehört zweifellos in die zweite Kategorie. Er stellt sozusagen den vorläufig letzten Vertreter einer grossen Ahnenreihe von theoretischen Physikern dar, die über Einstein, Heisenberg, Dirac, Boltzmann, Maxwell, Laplace bis zu Newton zurückreicht. Sie sind Ideen-Architekten, geniale Verallgemeinerer, Blickveränderer. Im Flickenteppich disparater Phänomene sehen sie ein zugrunde liegendes Muster. Maxwell erkannte zum Beispiel, dass Magnetismus und Elektrizität „im Prinzip“ Manifestationen ein und derselben physikalischen Realität sind, des elektromagnetischen Feldes, und ihm verdanken wir eine der elegantesten Theorien der Physik überhaupt. Im 20. Jahrhundert schritten die Vereinigungen voran: Materie und Licht in der Speziellen Relativitätstheorie, Licht und Wärme in der Quantenhypothese des Lichts (aus der sich die Quantentheorie entwickelte), Schwerkraft und Geometrie der Raumzeit in der Allgemeinen Relativitätstheorie. An der Vereinigung von Graviation und Quantenphysik wird hart gearbeitet. Und damit lockt die Sicht aus der „Gottesperspektive“, die alle bisher bekannten Grundkräfte des Kosmos unter das Design einer einzigen „letzten“ Theorie bringen könnte. Seinen früheren Bestseller „Eine kurze Geschichte der Zeit“ beschloss Hawking noch mit den Worten: „Wenn wir die Antwort auf diese Frage (warum es uns und das Universum gibt, Anm. E. K.) fänden, wäre das der endgültige Triumph der menschlichen Vernunft – denn dann würden wir Gottes Plan kennen.“ In seinem Buch „Der grosse Entwurf“ (2011) liess dann Hawking den alten Designer abtreten und inszenierte eine reine physikalische Weltentstehung.
Gott wegbeweisen
Jede Kultur hat ihre Kosmogonie. Primitive Kulturen erzählen Mythen, reifere Kulturen verwenden die Philosophie, ganz erwachsene Kulturen pflegen die Wissenschaft. Philosophie überwindet Mythologie, und Wissenschaft überwindet Philosophie. Im „grossen Entwurf“ erklärte Hawking die Philosophie für tot, weil sie nichts zum Fortschritt der Wissenschaften beigetragen habe. Stattdessen schwingt er sich nun selbst zum grossen Welterklärer auf. Das Kernkonzept der modernen Kosmogonie stammt aus der Quantenphysik, nämlich die Vorstellung der spontanen Erzeugung von Teilchen aus dem Vakuum (das nicht nichts ist). Eine im Teilchenbeschleuniger durchaus erprobte Vorstellung. Warum sollte man sie also nicht zumindest als Gedankenexperiment auf das Urlabor des frühen Universums anwenden. „Da es ein Gesetz wie das der Gravitation gibt, kann und wird sich das Universum (...) aus dem Nichts erzeugen. Spontane Erzeugung ist der Grund, warum es das Universum gibt, warum es uns gibt. Es ist nicht nötig, Gott als den ersten Beweger zu bemühen, der das Licht entzündet und das Universum in Gang gesetzt hat“, schreibt Hawking. Es erstaunt, mit welcher Insistenz Hawking immer wieder das Gesetz der Gravitation bemühte, nicht um physikalische Ereignisse zu erklären, sondern, um Gott wegzubeweisen. Als ob dies die Hauptaufgabe der Physik wäre.
Die Totengräber der Philosophie sind meist schlechte Philosophen
Wissenschaft ist und bleibt eine zentrale Autorität moderner Gesellschaften. Das Problem, das bei Autoren wie Hawking aufbricht, liegt darin, dass sie diese Autorität in deren eigenem Namen unterminieren. Wie lächerlich sich ein Hawking mit seinen theologischen Eskapaden anstellen mag, er bringt über seine Person hinaus eine ganze Disziplin, einen Beruf, ein über dreihundertjähriges Ethos in Verruf – ein Ethos, das 1663 in einem Entwurf der Statuten der Royal Society so formuliert wurde: „Gegenstand und Ziel (...) ist es, die Kenntnisse von natürlichen Dingen, von allen nützlichen Künsten, Produktionsweisen, mechanischen Praktiken, Maschinen und Erfindungen durch Experimente zu verbessern – ohne sich in Theologie, Metaphysik, Moral, Politik (...) einzumischen.“
Damit ist nicht gesagt, dass sich Wissenschafter heute nicht ethisch, religiös, moralisch oder politisch engagieren sollten, sondern nur, dass sie sich Rechenschaft darüber zu geben haben, was sie im Namen ihres Faches sagen können und was nicht. Genau diese Grenze verwischt Hawking. Er macht sich anheischig, als Wissenschafter Dinge zu beweisen, die mit seiner Wissenschaft nicht beweisbar sind. Er erklärt die Philosophie für tot, stümpert aber unbekümmert in Fragen des freien Willens und gibt dogmatisch philosophische Sätze von sich wie „Alles im Universum folgt Gesetzen, ohne Ausnahme“; er pflegt einen kruden Reduktionismus, von dem sich ironischerweise die meisten Philosophen längst losgesagt haben. Und er bestätigt damit eine alte Einsicht: Die wissenschaftlichen Totengräber der Philosophie entpuppen sich oft als deren schamlosesten Fledderer.
Hawking, der Pop Scientist
Zu allen Zeiten haben Wissenschaftler das Erklärungskonto ihrer Disziplinen überzogen, und zu anderen als wissenschaftlichen Zwecken missbraucht. Neu ist freilich, dass sich ein solches „Überziehen“ zu einem lukrativen literarischen Genre mausert: Pop Science. Aufmerksamkeit erregen, Provozieren, auf die Pauke hauen. Hawking ist zweifellos einer der grössten Physiker der Gegenwart. Aber seine Auftritte als Physiker ausser Dienst haben nichts mit Wissenschaft zu tun, sondern mit Wissenschaftsvermarktung.
Natürlich stellt sich die Frage, weshalb Autoren dieses Schlags derartigen Erfolg verbuchen. Denn eines erscheint ganz offensichtlich: Spräche er in seinen Büchern nur von Physik, fände Hawking gewiss nicht den grossen Resonanzraum, den er hat. „Fragen nach Gott und meinem Glauben mag ich nicht“, beschied er in einem Interview. Das ist definitiv Koketterie. Letztlich bedient er – obwohl er Gott aus dem Universum hinaus beweisen möchte – ein modernes religiöses Bedürfnis. Die Idee der „letzten Theorie“ ist keine wissenschaftliche, sondern eine wissenschaftlich verkappte religiöse Idee, die um ein Dilemma kreist. Je mehr wir vom Universum verstehen, desto sinnloser erscheint es uns auch, hat ein anderer Astrophysiker, Steven Weinberg, das Dilemma präzise beschrieben. Das spirituelle Loch, das die Naturwissenschaften in unser Welt- und Selbstverständnis gerissen haben, lässt sich aber nicht dadurch stopfen, dass nun die Wissenschafter im hohepriesterlichen Gestus erklären, wie die Welt wirklich tickt und wo Gott wirklich hockt (oder eben auch nicht hockt).
„More is different“
Viele Physiker und Philosophen sehen die Zeit angebrochen, das Projekt einer „letzten“ Theorie abzublasen. Die Welt ist zu komplex, sagen sie, als dass sie sich auf der Basis eines einfachen und schönen Designs verstehen liesse. Prominenter Vertreter dieser Sicht ist der Physiker und Nobelpreisträger Robert Laughlin, der in seinem Buch „Abschied von der Weltformel“ (2009) von einer „Neuerfindung“ der Physik spricht. Das klänge grosssprecherisch, läse man dies nicht vor dem Hintergrund von Hawkings „Grossem Entwurf“. Laughlin arbeitet auf dem Gebiet der Quanteneigenschaften der Materie. Und hier gibt es viele weisse Flecken. Der Grund liegt in einem Strukturmerkmal der Natur, das sich zuerst bei den Biologen unter der Bezeichnung „Emergenz“ eingebürgert hat. Was ist Emergenz? Die wohl dichteste Definition stammt vom Physiker Philipp W. Anderson: „More is Different“ – mehr ist anders. Materie ist ein Kollektiv aus Mikroobjekten, aus Molekülen, Atomen, Elementarteilchen, Quarks, vielleicht Strings, oder was auch immer. Ein Liter Luft z. B. ist mikroskopisch gesehen ein unüberschaubares Gewimmel von ungeheuer vielen Molekülen, deren einzelne Bewegungen zu beschreiben praktisch unmöglich ist. Und dennoch manifestieren all die Teilchen als Gas ein kollektives Verhalten, das ganz einfachen Gesetzen gehorcht. Komplexität – so könnte man sagen – schlägt bei einer bestimmten Grössenordnung und unter bestimmten Bedingungen um in gesetzmässige Einfachheit.
Viele banale Eigenschaften wie die Festigkeit eines Steins, die Flüssigkeit von Wasser, die Temperatur von Luft sind „emergente“ Phänomene, sie tauchen nur ab einer bestimmten Grösse des Systems auf. Heute kennt man auch exotischere Strukturen wie Flüssigkristalle, Supraleiter oder Supraflüssigkeiten. Es klingt durchaus paradox: Man kennt die fundamentalen Zusammenhänge der Materie, aber man ist nicht in der Lage, daraus die Eigenschaften alltäglicher und weniger alltäglicher Stoffe herzuleiten. Man macht vielmehr die Entdeckung, dass genügend viele Teilchen im Kollektiv oft „verrückt“ zu spielen beginnen – mehr ist anders. Materie entpuppt sich als Wunderhorn noch nicht entdeckter emergenter Phänomene.
„Vom Urknall zum Durchknall“
Bei aller Fasziniertheit von den hochspekulativen Luftnummern der theoretischen Physiker befällt den Laien früher oder später ein Unbehagen, das der Münchner Physiker Alexander Unzicker vor nicht allzu langer Zeit im Titel einer Streitschrift frech und frisch auf den Punkt brachte: „Vom Urknall zum Durchknall“ (2014). Das entspricht perfekt dem gängigen Klischee des verrückten Wissenschaftlers. Man verstünde freilich die theoretische Physik falsch, wollte man ihr die abstrakte Verstiegenheit ihrer Kopfgeburten zum Vorwurf machen. Niels Bohr, der grosse Pionier der Atomphysik, sagte einmal von der Quantentheorie: „Wer sie nicht verrückt findet, versteht sie nicht.“ Ideen sind der Grundstoff der Forschung – und verrückte Ideen der Motor. Wenn der bisherige Begriffsapparat nicht mehr zur Lösung eines Problems taugt, müssen wir gelegentlich die alten Begriffsschrauben lockern und einen neuen Apparat bauen. Dann beginnen wir von solchen exotischen Dingen wie Strings und Branen, von dunkler Energie und dunkler Materie, von Schleifen-Quanten-Gravitation und Deformierter Spezieller Relativitätsheorie zu sprechen und den Experimentalphysikern wird schwindlig bei der Frage, wie sie das alles überprüfen sollen.
Über die theoretische Physik kursiert der Witz: Sie hat grundsätzlich nichts zu tun mit der Realität und ähnlichem Unsinn. Sie distanziert sich davon durch abstrakte Modelle und Gedankenexperimente – oder durch „grosse Entwürfe“ und „letzte Theorien“.