Unter den Zuschauern, meist Mitgliedern von Frauen- und Menschenrechtsorganisationen, sass auch Vrinda Grover, eine Rechtsanwältin, deren Mandantinnen meist Opfer männlicher Gewalt sind. „In drei Monaten haben wir erreicht, wofür wir zwanzig Jahre vergeblich gekämpft haben – ein Gesetz durch das Parlament zu bringen, das der sexuellen Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen einen Riegel schiebt. Es ist nicht perfekt, weit entfernt davon.“ Aber es sei das erste Mal, dass vielen indischen Männern endlich bewusst gemacht wird, dass weithin tolerierte Formen sexueller Belästigung nicht einfach unschuldige "Streiche" sind, sondern Straftaten.
Es war die barbarische Gruppenvergewaltigung am 16. Dezember 2012 in Delhi, die das Fanal zum Aufstand war. Vrinda Grover und ihr Mann gehörten zu den ersten, die auf die Strasse gingen, um den Staat zu einer exemplarischen Bestrafung der sechs Täter zu zwingen. „Wir hatten erwartet, dass wir das übliche Häufchen Demonstranten waren, die jeweils ihre Stimme erheben. Aber die Menschen, die meisten von ihnen junge Frauen und Männer, kamen zu Tausenden, jeden Tag mehr. Die Medien horchten auf, und als die Polizei ohne jeden Grund mit brutaler Härte einschritt, wurde daraus eine Live-Story und löste eine Protestwelle im ganzen Land aus“.
Die Regierung unter Druck
Die disproportionale Polizeireaktion weckte den Verdacht, der Staat schütze sexuelle Gewalttäter. Von der Protestwelle in die Enge gedrängt sah sich die Regierung gezwungen, ihr Einstehen für die Frauen unter Beweis zu stellen. Sie versprach eine gesetzliche Verschärfung und setzte eine unabhängige Kommission ein, die dafür Vorschläge erarbeiten sollte. Es war das probate Mittel, um Zeit zu gewinnen und Gras über den "Zwischenfall" wachsen zu lassen.
Doch die Frauen- und Menschenrechtsgruppen ergriffen die gebotene Chance, einen schwerfälligen und widerwilligen Staat zum raschen Handeln zu zwingen. Die dreiköpfige Kommission unter dem Vorsitz eines ehemaligen Bundesrichters erhielt von allen Seiten rechtliche und logistische Unterstützung. Rund achtzig Juristen, viele von ihnen Männer und Frauen im In- und Ausland, halfen der Kommission, über 30‘000 Eingaben zu sichten, zu ordnen und in konkrete Vorschläge umzugiessen. Bereits nach dreissig Tagen legte sie der Regierung einen umfassenden Bericht auf den Tisch. Er enthielt neben den Gesetzes-Empfehlungen einen Appell an Gesellschaft und Politik, die Einstellungen gegenüber dem weiblichen Geschlecht endlich auf die gleiche Augenhöhe mit jenen der Männer zu bringen.
Gegner ohne Chancen
Die Regierung, überrumpelt durch die rasche und hochstehende Arbeit der Kommission, musste nun ebenfalls handeln. Sie kündigte an, bereits in der laufenden Parlamentssession ein neues Gesetz zu verabschieden.
Die Frauenorganisationen nutzten das für den Kommissionsbericht gewobene Netzwerk. Sie berieten Justiz- und Familienministerium sowie die Parlamentskommission, die mit der Redaktion des neuen Gesetzentwurfs beauftragt war. Sie unterstützten die Frauen-Abgeordneten, die ihre Chance wahrnahmen, ihre männlichen Kollegen für einmal Schachmatt zu setzen. Und sie antichambrierten bei Sonia Gandhi und mobilisierten wichtige diplomatische Vertretungen in der Hauptstadt.
Es blieb einzig die Frage offen, ob die Gesetzesvorlage eine Parlamentsmehrheit finden würde. Als Vrinda Grover und ihre Kolleginnen am ersten (und einzigen) Tag der Parlamentsdebatte in den Besuchergalerien sassen, sahen sie rasch, dass die Gegner keine Chance hatten. Die grossen Parteien Kongress und BJP befürworteten die Vorlage, ebenso Kommunisten und einige Regionalparteien. Die grossen Kastenparteien, die sonst jede frauenfreundliche Gesetzgebung erfolgreich blockieren, waren für einmal ausgespielt.
Handfeste rechtliche Leitplanken
Doch sie räumten das Feld nicht kampflos. Im Gegenteil, sie setzten zu einer Lektion in sexistischer Rhetorik an, wie sie keine Satire besser hätte skripten können. Besonders die drei Yadavs, die gleichnamigen Anführer der Bauernparteien, setzten zu einem höhnischen Feuerwerk an, das im ganzen Rund mit dröhnendem Gelächter quittiert wurde. Nun würden sie Frauen wohl nie mehr nachschauen dürfen, wenn sie mit dem Wasserkrug auf dem Kopf ihre Hüften schwenkten; in Varanasi müssten die Treppen zum rituellen Bad der Hindus nun wohl nach Geschlechtern getrennt werden. Natürlich seien sie gegen Gewalt an Frauen, versicherten sie in gespieltem Ernst, aber dafür sollten sich die jungen Frauen gefälligst züchtig kleiden und die für sie ausgesuchten Ehemänner akzeptieren.
„Ich schämte mich für mein Land, als ich diesem Spektakel zusah“, meinte Grover. „Es war der schlagende Beweis, warum wir so dringend auf dieses Gesetz angewiesen sind.“ Die Debatte zeigte ihnen aber auch, dass es relativ leicht war, ein Gesetz auf die Beine zu stellen, dass es aber wohl Generationen dauern dürfte, bis sich die Einstellungen verändert haben. Dennoch: Die Verabschiedung handfester rechtlicher Leitplanken war zweifellos der Startschuss für diesen Prozess der Einstellungs- und Verhaltensänderung.
Patriarchalischer Machtanspruch
Die Schandtat vom letzten Dezember, ebenso wie die zahllosen Vergewaltigungen, die nun plötzlich ans Licht der Öffentlichkeit treten, legen eine Gesellschaft bloss, die hinter der Fassade demokratischer Gleichberechtigung ihren patriarchalischen Machtanspruch wenn nötig mit Gewalt durchsetzt. Die beispiellose Mobilisierung der letzten Monate zeigt aber auch, dass Indiens Frauen nicht nur Opfer sind. Ohne eine hartnäckige Frauen- und Menschenrechtsbewegung bliebe die strukturelle sexuelle Gewalt in der indischen Gesellschaft weiterhin ungesühnt.
Frauen wie Vrinda Grover sind nur das eine Gesicht dieser Bewegung, jenes, das die Mechanismen der Macht zu nutzen versteht. Nicht weniger beachtenswert sind die vielen Frauen, die aus ihrer persönlichen Tragödie die Kraft schöpften, „to be the change they want to see“ (M.K.Gandhi). Zu ihnen gehört etwa Sunita Krishnan, Opfer einer Gruppenvergewaltigung, die eine Organisation namens "Prajwala" gründete, mit dem sie dem Frauen- und Kinderhandel den Kampf angesagt hat.
Zur Strafe vergewaltigt
Oder es sind Analphabetinnen wie Bhanwari Devi. Sie war eine 33-jährige Sozialarbeiterin in einem Dorf in der Nähe von Jaipur, als sie 1991 von der Verheiratung eines neun Monate alten Kinds hörte und die Polizei alarmierte. Die Eheschliessung wurde gestoppt, doch kurz darauf wurde sie zur Strafe von fünf Männern vergewaltigt. Sie verklagte die Täter, doch die Klageschrift lautete anders, als sie zu Protokoll gegeben hatte, und ihre medizinische Untersuchung wurde vermasselt. Doch mithilfe von NGOs reichte sie beim Obersten Gericht eine Bittschrift ein, und dessen Urteil mündete nach dreizehn Jahren in einem Gesetz, das Sozialarbeiterinnen besseren Schutz vor sexueller Gewalt gibt. Und sie gibt ihren Peinigern keine Ruhe und kämpft weiter, um die Täter zu stellen. Denn 21 Jahre nach der Vergewaltigung laufen diese immer noch frei herum.