Die offizielle Vereidigung war vorbei. Jetzt wurden Joe Biden und Kamala Harris umringt und beglückwünscht, auf Distanz natürlich: von den Clintons, den Bushs, den Obamas und all den anderen Notabeln. Auch vom ehemaligen Vizepräsidenten Mike Pence und dem republikanischen Senator Mitch McConnell. Man lachte wieder, war fröhlich. Bei Trumps Inauguration hatte niemand gelacht.
Und dann stand plötzlich auf den Stufen des Capitols eine junge Frau im Zentrum – sie, „ein dünnes, schwarzes Mädchen, das von Sklaven abstammt“, wie sie sich selbst beschreibt. Sie wurde belagert, beklatscht und bedrängt. Auch von Mike Pence, auch von Mitch McConnell.
Sie war die grosse Überraschung dieser Inauguration. Kaum eine amerikanische Zeitung, die sie am nächsten Tag nicht auf die Frontseite hisste. Sie hatte dem Anlass diese Zuversicht, diese Entspanntheit, diese Fröhlichkeit und Hoffnung gegeben, die während den verbissenen und stets von Missmut erfüllten vier Trump-Jahren so fehlte.
Die jetzt 22-jährige Amanda Gorman wuchs mit einer alleinerziehenden Mutter in Los Angeles auf. Schon als Kind begann sie, Gedichte zu schreiben. Ihren ersten Poesie-Preis erhielt sie mit 16 Jahren. Während ihres Soziologie-Studiums in Harvard wurde sie 2017 für das Gedicht „The Gathering Place“ als „beste junge Poetin“ ausgezeichnet.
Sechs Minuten lang rezitierte sie ihr Gedicht, rüttelte Amerika auf und gab dem Land wieder Hoffnung. Sie sprach entspannt, mit klarer, manchmal fast fröhlicher Stimme und präzisen Gesten. Sechs Minuten, die – wie es Kommentatoren pathetisch sagten – „wieder die Sonne über Amerika aufgehen liessen“. Spätestens jetzt zappten sich die Trump-Fans wohl aus dem Programm.
Ihr Text war zwar eine bitterböse Abrechnung mit Bidens Vorgänger. Doch bald schon dominierte der Optimismus. „The Hill We Climb“ heisst das Gedicht. Es spielt sowohl auf die Ereignisse vom 6. Januar an, als ein Trump-Mob das Kapitol stürmte. Doch gleichzeitig beschreibt das Poem die Anstrengungen, gegen die Trump-Truppe anzukämpfen und vier schwarze Jahre hinter sich zu bringen.
Jill Biden, die Frau des jetzigen Präsidenten und Englisch-Professorin hatte Amanda Gorman entdeckt. Das Komitee, das die Inauguration vorbereitete, war sofort einverstanden, die junge Frau auftreten zu lassen. Amanda Gorman hatte einen Monat Zeit, das Gedicht zu schreiben.
„Wir legen unsere Waffen nieder,
damit wir unsere Arme
nacheinander ausstrecken können.
Wir wollen Schaden für keinen und Harmonie für alle.“
Nach dem Kapitol-Sturm am 6. Januar schrieb sie den Text um und fügte böse Worte bei: „Sie wollten unser Land zerstören. Beinahe ist es ihnen gelungen.“
„Doch auch wenn Demokratie von Zeit zu Zeit verzögert werden kann,
kann sie niemals dauerhaft besiegt werden.“
„Wir werden uns nicht umdrehen
oder durch Einschüchterung unterbrechen lassen,
weil wir wissen, dass unsere Untätigkeit und Trägheit
unser Erbe für die nächste Generation sein wird.“
Seit Jahren kämpft die Schwarze Amanda Gorman gegen Rassismus, für ein besseres Amerika, für Zusammenarbeit, für Aussöhnung. Doch sie kämpft einzig mit ihren Gedichten. Sie akzeptierte auch das Angebot des Sportartikelherstellers Nike, ein Gedicht für die schwarzen Athletinnen und Athleten zu schreiben.
Es ist Tradition, dass bei der Inauguration demokratischer Präsidenten Gedichte vorgetragen werden. John F. Kennedy engagierte 1961 Robert Frost. 1993 war es Maya Angelou („On the Pulse of Morning“) und 1997 Miller Williams, die für Bill Clinton auftraten. Barack Obama bat 2008 Elizabeth Alexander und 2012 Richard Blanco um einen Auftritt. Und jetzt also Amanda Gorman.
Sie, die politisch Engagierte, hatte schon 2017 der New York Times erklärt, sie wolle im Jahr 2036 für die amerikanische Präsidentschaft kandidieren. In den sozialen Medien hat sie 2,3 Millionen Followers. Diese Zahl wird jetzt nach ihrem bewegenden, emotionalen Auftritt in Washington schlagartig grösser werden.
„Also lasst uns ein Land hinterlassen,
das besser ist als das, welches uns hinterlassen wurde.“
„Der Hügel, den wir erklimmen“ von Amanda Gorman
Mr. President, Dr. Biden, Madam Vice President, Mr. Emhoff, Bürger Amerikas und der ganzen Welt,
Wenn es Tag wird, fragen wir uns,
wo wir Licht zu finden vermögen, in diesem niemals endenden Schatten?
Den Verlust, den wir tragen,
ein Meer, das wir durchwaten müssen.
Wir haben dem Bauch der Bestie getrotzt.
Wir haben gelernt, dass Ruhe nicht immer Frieden bedeutet.
Und dass die Normen und Vorstellungen von dem, was gerade ist,
nicht immer Gerechtigkeit sind.
Und doch gehört die Morgendämmerung uns,
noch ehe wir es wussten.
Irgendwie schaffen wir es.
Irgendwie haben wir es überstanden und bezeugten
eine Nation, die nicht kaputt ist,
sondern einfach unvollendet.
Wir, die Nachfahren eines Landes und einer Zeit,
in der ein dünnes, schwarzes Mädchen,
das von Sklaven abstammt und von einer alleinerziehenden Mutter grossgezogen wurde,
davon träumen kann, Präsidentin zu werden,
nur um sich selbst in einer Situation zu finden, in der sie für einen vorträgt.
Und ja, wir sind alles andere als lupenrein,
alles andere als makellos,
aber das bedeutet nicht, dass wir danach streben,
eine Gemeinschaft zu bilden, die perfekt ist.
Wir streben danach, gezielt eine Gemeinschaft zu schmieden.
Ein Land zu bilden, das sich allen Kulturen, Farben, Charakteren und menschlichen Lebensverhältnissen verpflichtet fühlt.
Und so erheben wir unseren Blick nicht auf das, was zwischen uns steht,
sondern auf das, was vor uns steht.
Wir schliessen die Kluft, weil wir wissen, dass wir, um unsere Zukunft an erste Stelle zu setzen,
zuerst unsere Unterschiede beiseitelegen müssen.
Wir legen unsere Waffen nieder,
damit wir unsere Arme
nacheinander ausstrecken können.
Wir wollen Schaden für keinen und Harmonie für alle.
Lasst die Welt, wenn sonst auch nichts, sagen, dass dies wahr ist:
Dass wir, selbst als wir trauerten, wuchsen
Dass wir, selbst als wir Schmerzen litten, hofften
Dass wir, selbst als wir ermüdeten, es weiter versucht haben
Dass wir für immer verbunden sein werden, siegreich
Nicht weil wir nie wieder eine Niederlage erleben werden,
sondern weil wir nie wieder Spaltung säen werden.
Die Heilige Schrift sagt uns, dass wir uns vorstellen sollen,
dass jeder unter seinem eigenen Weinstock und Feigenbaum sitzen soll
und keiner ihnen Angst machen soll.
Falls wir unserer eigenen Zeit gerecht werden sollen,
dann wird der Sieg nicht in der Klinge liegen,
sondern in all den Brücken, die wir gebaut haben.
Das ist das Versprechen:
Der Hügel, den wir erklimmen,
wenn wir es nur wagen,
denn Amerikaner zu sein, ist mehr als ein Stolz, den wir erben,
es ist die Vergangenheit, in die wir treten,
und die Art, wie wir sie reparieren.
Wir haben eine Macht gesehen, die unsere Nation eher zerschlagen würde,
als sie zu teilen,
die unser Land zerstören würde, wenn es dazu führe, Demokratie zu verzögern.
Und dieser Versuch war fast erfolgreich.
Doch auch wenn Demokratie von Zeit zu Zeit verzögert werden kann,
kann sie niemals dauerhaft besiegt werden.
In diese Wahrheit,
in diesem Glauben, vertrauen wir.
Denn obwohl wir unsere Augen auf die Zukunft richten,
die Geschichte hat ihre Augen auf uns gerichtet.
Dies ist die Ära gerechter Wiedergutmachung.
Wir fürchteten zu Beginn,
wir fühlten uns nicht bereit,
Erben einer solch schrecklichen Stunde zu sein,
doch in ihr fanden wir die Kraft
ein neues Kapitel zu schreiben,
uns selbst Hoffnung und Lachen zu schenken.
Also während wir uns einst fragten,
wie wir jemals diese Katastrophe überstehen könnten,
stellen wir jetzt fest:
Wie könnte eine Katastrophe jemals uns überstehen.
Wir werden nicht zurück zu dem marschieren, was war,
sondern uns auf das zu bewegen, was sein wird.
Ein Land, das zwar verletzt, aber dennoch intakt ist,
gütig, aber kühn,
kämpferisch und frei.
Wir werden uns nicht umdrehen
oder durch Einschüchterung unterbrechen lassen,
weil wir wissen, dass unsere Untätigkeit und Trägheit
unser Erbe für die nächste Generation sein wird.
Unsere groben Fehler werden zu ihren Lasten.
Aber eines ist sicher:
Wenn wir Barmherzigkeit mit Macht verschmelzen
und Macht mit Recht,
dann wird Liebe unser Vermächtnis
und Veränderung das Geburtsrecht unserer Kinder.
Also lasst uns ein Land hinterlassen,
das besser ist als das, welches uns hinterlassen wurde.
Mit jedem Atemzug aus meiner bronzegegossenen Brust
werden wir diese verwundete Welt in eine wundersame verwandeln.
Wir werden uns von den goldbeschienenen Hügeln des Westens erheben,
wir werden uns aus dem windgepeitschten Nordosten erheben,
in dem unsere Vorfahren zum ersten Mal die Revolution verwirklichten,
wir werden uns aus den von Seen gesäumten Städten des Mittleren Westens erheben,
wir werden uns aus dem sonnengebrannten Süden erheben,
wir werden wieder aufbauen, uns versöhnen und erholen,
und jeden bekannten Winkel unserer Nation und
jede Ecke, die unser Landes genannt wird.
Unser Volk, vielfältig und schön, wird aufstreben,
zerschunden und schön.
Wenn der Tag kommt, treten wir aus dem Schatten heraus,
entflammt und ohne Angst.
Die neue Morgendämmerung erblüht, wenn wir sie befreien.
Denn es gibt immer Licht,
wenn wir nur mutig genug sind, es zu sehen,
wenn wir nur mutig genug sind, es zu sein.