Nach 142 Jahren wird der Druck des Telefonbuches eingestellt. Bundesrat Moritz Leuenberger war als Vorsteher des UVEK auch zuständig für das Telefonbuch. Zum 125-Jahr-Jubiläum dieses Werks hielt er eine kleine Ansprache. Hier einige Auszüge:
«Als Infrastrukturminister bin ich zuständig für Tunnel, Strassen, Brücken, Eisenbahnen, Hochspannungs- und Gasleitungen und Handyantennen, doch die eigentliche Infrastruktur unseres Landes ist das Telefonbuch.
Das Telefonbuch ist eine feste Burg im Strudel von Fake und Lüge. Das bemerkte ich schon als Kind:
Als mir der Samichlaus meine Sünden aus einem eindrücklichen Schinken vorlas, einer Art Bibel, wie ich zunächst glaubte, bemerkte ich, als er seinen Bart hob, es war ja ein Telefonbuch, in welches meine Eltern mein Sündenregister klebten. Eine Welt der Lügen brach vor mir zusammen, denn wegen diesem Telefonbuch realisierte ich: Alles war falsch, der Bart, der Samichlaus selber und somit auch mein Sündenregister.
So wuchs mein Respekt für das Telefonbuch: Es hat mich aufgeklärt und verkörperte fortan für alle Werte, die mir wichtig waren und wichtig sind:
- Es steht für Bildung und Information: Es enthält Notrufnummern von Feuerwehr, Sanität und Polizei, Knigge-Ratschläge, Fitness-Anleitungen, Ernährungs- und Putztipps, Pflanzenkalender, Muldenservice, gelegentlich sogar der Hinweis, wo ein Hanfladen zu finden ist.
- Nur wer das Alphabet kennt, kann ein Telefonbuch benutzen. Am Anfang das A, am Schluss das Z. Doch als ich das kontrollierte, stellte ich fest: Die erste Seite ist überschrieben mit «Zeitzonen», die letzte mit «AHV-Ausgleichskassen». Das Telefonbuch kann also sogar querdenken.
- Das Telefonbuch verkörperte Ratio, Systematik und Logik. Den Wert eines Buches erkennen wir an seinem Inhaltsverzeichnis, an der Disposition und Konzeption seines Inhaltes. Das Telefonbuch besteht nur aus einem Inhaltsverzeichnis. Keine epischen Ausschweifungen, die uns ablenken könnten, kein einziger verschleiernder Schnörkel, nur Facts, keine empörten Meinungen.
- Das Telefonbuch hilft uns, wenn wir den Diaprojektor auf die richtige Höhe stellen müssen: zweifellos ein Beitrag zur Aufklärung. Fehlt unter einem Blumentopf der Unterteller: Das Telefonbuch schützt vor Wasserflecken. Seine H2O-Toleranz ist unendlich.
- Das Telefonbuch bedeutet Gleichheit und Gerechtigkeit. Jedem Abonnenten, jeder Abonnentin steht ein genau definierter Raum für seine wichtigsten Koordinaten zu: Name, Vorname, Strasse, Rufnummer, Handy, Mailadresse – alles in exakt derselben Schriftgrösse. Ungeachtet ihres Herkommens, ihres Geschlechtes, ihrer Rasse und ihres Einkommens sind die Abonnenten und -innen in schlichter Bescheidenheit nacheinander aufgereiht. Vor dem Telefonbuch sind wir alle gleich.
- Literaturwissenschafter wissen heute: Als Leo Tolstoi die Novelle «Wieviel Erde braucht der Mensch?» schrieb, liess er sich vom schweizerischen Telefonbuch inspirieren.
- Das Telefonbuch kennt keine Privilegien, keine Aristokratie. Alle müssen sich dem Alphabet unterordnen. Wer sich «von» schreibt, muss bis ganz zum Schluss warten. Auch die Classe politique kommt zu keinen Vorrechten:
Suchen wir nach der Zürcher Nationalrätin Anita Thanei, kommt zuerst Thanabalasubramaniam Kanapathipillai, Magaziner, dann Thanei Anita, Rechtsanwältin, dann Thanetpaisansakul Sumana und Thang Viseth vom Khmerzentrum. - Das Telefonbuch steht für Freiheit, Offenheit und Ehrlichkeit, die Ehrlichkeit zuzugeben, es nicht vollständig lesen zu müssen. Was wir bei den gesammelten Werken von Kant oder Marx in unseren Büchergestellen zwanghaft vorgeben, nämlich sie gelesen zu haben, dürfen wir beim Telefonbuch freimütig zugeben: Wir blättern nur gelegentlich in ihm.
- Das Telefonbuch steht für Brüderlichkeit: Es garantiert, dass wir erreichbar sind, dass alle von unserer Existenz wissen und wir uns gegenseitig aufsuchen oder miteinander telefonieren können.
- Es dient dem Citoyen und der Citoyenne, die wissen will, wer die andern Mitglieder der Gesellschaft sind, ob sie einen neuen Beruf haben, ob sie umgezogen sind oder ob sie schon gestorben sind.
Darum muss die Swisscom als Grundversorgerin ein Telefonverzeichnis sämtlicher Abonnenten und Abonnentinnen führen und veröffentlichen – auch von denjenigen, die Abonnenten anderer Telefonanbieter in der Schweiz sind.
Es gibt ein Recht, im Telefonbuch eingetragen zu sein. Der Bundesrat hat dieses Recht in der Verordnung über die Fernmeldedienste verankert; es entspricht der europäischen Menschenrechtskonvention, die das Recht schützt, Beziehungen zu anderen Menschen zu knüpfen.
Zum Grundrecht auf persönliche Freiheit gehört ebenfalls die Kontaktaufnahme zu anderen Personen. Verfassungsmässig garantiert sind die Gleichbehandlung und die Wirtschaftsfreiheit – aus beiden leitet sich das Recht auf einen Eintrag im Telefonbuch ab. Natürlich muss er korrekt sein, eine falsche Adresse oder Telefonnummer könnte – gerade für ein Unternehmen – von existentieller Bedrohung sein.
Es gibt ebenfalls ein Recht, das Telefonbuch konsultieren zu können. Der Zugang zu den Telefonnummern gehört zur Grundversorgung, in der Telefonanschlussgebühr ist ein Exemplar eines Telefonbuches inbegriffen.
All diese Grundgesetze und Vorschriften sind geschaffen worden, damit jeder Mensch von anderen Menschen erkannt, aufgefunden und kontaktiert werden kann.
Das Telefonbuch wird das Herzstück der schweizerischen Politik bleiben. Es steht für Wandel und Fortschritt, für Aufklärung und Menschenrechte, für Zusammenhalt und Service public. Das Telefonbuch ist die Raison d’être, eine feste Burg im Strudel politischer Modeströmungen. Dieses Buch gibt es heute, morgen und immerdar.»