Ich habe im Lauf der Jahre in Indien eine Reihe von Jesuiten kennengelernt. Es waren Männer – leider gibt es keine Jesuiten-Nonnen – die sich immer noch als intellektuelle Speerspitze sahen, aber nicht mehr für die Kirche und ihre Ausbreitung. Die meisten fühlten sich einem radikalen christlichen Glauben verpflichtet, der die kirchlichen Institutionen ebenso hinterfragte wie die Strukturen von Gesellschaft und Staat.
In den frühen neunziger Jahren traf ich im zentralindischen Stammesgebiet einen Jesuiten, der sich als «Sozialarbeiter» ausgab. Seine «Mission» war, die zurückgezogen lebenden Adivasis in ihrem traditionellen Gemeinschaftsdenken zu stärken. Gleichzeitig lehrte er sie ihre Bürgerrechte, damit sie dem wachsenden Druck einer ressourcenhungrigen Industriegesellschaft die Stirn bieten konnten.
Ich erinnere mich nur noch an zwei Dinge bei diesem tamilischen Priester. Da war einmal sein «Gottesdienst», in dem das Pantheon der Stammesgottheiten ebenso Platz fand wie der revolutionäre Nazarener. Das zweite war sein Vorname Lourduswamy. Seine Eltern hatten ihm diesen Namen aus Verehrung für die Muttergottes von Lourdes gegeben.
Father Stan und die linksrevolutionäre Guerilla
Die bizarre Namensgebung hatte mich, einen ehemaligen Lourdes-Pilger, damals belustigt. Aber ich wusste lange nicht, dass sie unter tamilischen Christen offenbar nicht ungewöhnlich war; bis ich vor einigen Jahren von einem Jesuiten hörte, dessen Name – Stan Swamy – eine Verkürzung von Stanislas Lourduswamy war.
Father Stan hatte wie sein Namensvetter als junger Priester die Stammesregion im neugeformten Bundesstaat Jharkhand als Tätigkeitsfeld auserkoren. Inzwischen hatte sich die politische Entwicklung immer stärker verändert. Die vom Staat geförderte Übernahme grosser Landstriche durch Bergbau- und Elektrizitätsunternehmen hatte die gemeinschaftlichen Siedlungsräume drastisch verengt.
Dieser schleichende Verlust der Lebensgrundlagen zerstörte auch die Stammesökonomie und zersetzte zunehmend Lebensordnung und Lebenssinn ihrer Bewohner. Viele junge Adivasis zog es zu den Naxaliten, den linksrevolutionären Guerillas, die bereits in anderen Regionen Ostindiens zu einem ideologischen und gewaltbereiten Auffangbecken für landlose Arme geworden waren.
Unterstützung gewaltloser Volksbewegungen
Für den staatlichen Sicherheitsapparat wurden Adivasis damit zunehmend zu einem Kollektiv potentieller Terroristen. Friedliche Proteste gegen die Übernahme ganzer Landstriche durch Bergbau- und Strom-Konzerne endeten meist in Massenverhaftungen. Nur selten konnte der Staat Beweise für eine kriminelle Verschwörung beibringen. Damit gerieten sie in jahrelange Untersuchungshaft, meist ohne Zugang zu rechtlichem Gehör.
Dies wurde der Fokus für Stan Swamys «missionarische» Tätigkeit. Im Gegensatz zu seinem Namensvetter, den ich Jahrzehnte zuvor getroffen hatte, liess er die Seelsorge auf der Seite und konzentrierte das Wort der Bibel auf das Einstehen für soziale Gerechtigkeit. «Kirchen-Establishments», so sagte er, «sollen sich Volksbewegungen anschliessen und diesen logistische Unterstützung bieten.»
Genau dies tat Father Stan in den vergangenen dreissig Jahren. Dabei distanzierte er sich dezidiert von der militärischen Ideologie der Naxaliten. In seinen Augen konnte Gewalt nie zu einer echten Befreiung führen, da Waffen in ihrer Natur ein Mittel der Unterjochung seien.
Kampf gegen die Beugung des Rechts
So besuchte er etwa alle Bezirksgefängnisse des Staats Jharkhand und erstellte eine Liste aller Untersuchungshäftlinge. Seine Petition an das Landes-Obergericht enthielt eine Liste von über 3’000 Personen. Sie waren bei Protesten gegen ein Kraftwerk der Adani-Gruppe – mit Kohle aus Australien und Strom für Bangladesch – in U-Haft genommen worden. Das Gericht befahl, alle gegen eine symbolische Kaution freizusetzen.
Swamy und seine Mitstreiter liessen sich nicht davon abschrecken, dass der Staat dem Gerichtsbefehl kaum Folge leistete. Wiederholte Interpellationen bei Gerichten, Medien und im Landesparlament stellten sicher, dass dieses kriminelle Versäumnis nicht vergessen ging.
Der streitbare Swamy – ein schmalgebauter, eher scheuer Mann mit chronisch angeschlagener Gesundheit – blieb ein Stachel im Fleisch des politischen Establishments. Dieses konnte ihm zwar Steine in den Weg legen, etwa durch die medial gestreute Verdächtigung, dass er klammheimlich Hindus zum Christentum bekehre; aber er wurde zähneknirschend geduldet.
Autoritäre Wendung mit Modis Herrschaft
Dies änderte sich mit der Regierungsübernahme durch die Hindu-Nationalisten im Jahr 2014. Um die Unterstützung von Menschenrechtsgruppen durch liberale städtische Intellektuelle zu unterbinden, erfand die BJP unter Narendra Modi den Begriff der «urban Naxals»: Im Schafspelz von Anwälten, Akademikern, religiösen Führern und Journalisten verbargen sich in den Augen der Regierung Helfershelfer der «Terroristen».
Dieser politisch einflussreiche elitäre Sumpf gehörte ausgetrocknet. Zunächst überliess der Staat das Feld dem militanten Untergrund und gab ihm stillschweigend rechtliche Rückendeckung. Einflussreiche Aktivisten wurden in Fememorden eliminiert, und deren strafrechtliche Verfolgung verhedderte sich in den Mühlen von Polizei und Justiz.
Dennoch wirbelten sie viel politischen Staub auf, und so verlegt sich der Staat nun zunehmend auf institutionelle Mittel, um der Zivilgesellschaft auf den Pelz zu rücken. Er greift dabei auf harsche Polizeigesetze der Kolonialherren im Kampf gegen die Unabhängigkeitsbewegung zurück. Dazu gehört etwa der drakonische «Unlawful Activities Prevention Act»: Wie der Name sagt, erlaubt der UAPA die Verhaftung und zeitlich unbegrenzte Verwahrung von Verdächtigen, die sich noch gar keiner kriminellen Tat schuldig gemacht haben.
Agitation gegen Kastenlose
Am Jahresende von 2018 versammelten sich in der Nähe von Pune mehrere tausend Dalits, um den 200. Jahrestag eines Kolonialsiegs gegen den lokalen Maharadscha zu feiern. Die merkwürdige Konstellation erklärt sich durch den Umstand, dass die britische Armee in diesem Krieg mehrheitlich aus Dalit-Fusssoldaten zusammengesetzt war: Für sie war es ein Sieg gegen den brahmanischen Peshwa-Clan.
Am 1.Januar 2019 wurde diese Siegesfeier durch Hindutva-Gruppen gestört, und es kam zu Handgreiflichkeiten. Eine Gruppe von Intellektuellen, die sich für die Kastenlosen einsetzen, solidarisierte sich bei einem Treffen in Pune mit den Dalits.
Kurz darauf wurden fünfzehn ihrer Teilnehmer – ehemalige Richter, Anwälte, Journalisten und Akademiker – von der National Investigation Agency (NIA) verhaftet. Der Vorwurf lautete, beim Treffen sei ein maoistischer Staatstreich und die Ermordung von Premierminister Modi geplant worden. Damit konnte die NIA den UAPA geltend machen und eine lange U-Haft sicherstellen – genügend Zeit, um eine einigermassen glaubwürdige Gerichtsklage zu bewerkstelligen.
Intrige gegen Stan Swamy
Ein knappes Jahr später wurde auch Stan Swamy verhaftet. Die NIA fand in seinem Computer E-Mails, die ihn als Mitglied des Komplotts belasteten. Obwohl der damals 82-Jährige bereits stark von seiner Parkinson-Krankheit gezeichnet war, wurde er in ein Gefängnis bei Mumbai gebracht. Inzwischen war auch die Corona-Epidemie ausgebrochen, und die Gefahr schien gross, dass Swamy wegen seiner geschwächten Konstitution im Gefängnis angesteckt würde (bloss drei Ayurveda-Ärzte betreuten dort rund 3’500 Insassen).
Es zeigte sich rasch, dass dies kein mildernder Umstand war, im Gegenteil, das Virus war eine willkommene Waffe gegen den aufmüpfigen Mönch. Auch das Gericht ging nicht auf Swamys Antrag ein, ihn doch an seinem Wohnort in Zentralindien zu befragen. Eine Freilassung gegen Kaution wies es ebenfalls zurück, obwohl das NIA während der ganzen Verwahrungsdauer kein einziges Verhör durchführte. Selbst als ein amerikanisches Gutachten bewies, dass die belastenden E-Mails von fremder Hand in Swamys Computer eingeschleust worden waren, stellte sich der Sonder-Richter taub.
Die Gefängnisleitung verweigerte ihm sogar einen Strohhalm zum Trinken. Das starke Händezittern erlaubte ihm nicht, einen Becher Wasser an die Lippen zu setzen, ohne es zu verschütten. Sein Verteidiger musste diese winzige humanitäre Geste vor dem Richter einfordern, und auch da dauerte es einen Monat, bevor ihm eine spezielle Tasse mit Mundstück gewährt wurde.
Gefangenschaft als institutioneller Mord
Was kommen musste – oder sollte –, trat ein: Vor zwei Monaten steckte sich Stan Swamy mit Covid an. Noch einmal dauerte es Wochen, bevor der Häftling schliesslich in ein Krankenhaus verlegt wurde. Die Einlieferung kam zu spät. Am 5. Juli war Stan Swamy tot.
Die Umstände von Verhaftung und Tod erregten landesweites Aufsehen. Er war nicht nur die weitaus älteste Person, gegen die je eine Terrrorismusklage ausgesprochen wurde. Die Empörung richtete sich besonders gegen die unmenschliche Drangsalierung sowie die Parteilichkeit des Gerichts. Der Menschenrechts-Aktivist Harsh Mander nannte es «institutional murder».
Swamy selber war allerdings zum Tod bereit, wenn dieser dazu beitragen würde, dem Ziel sozialer Gerechtigkeit näherzukommen. Er war es gewesen, der sich am Ende gegen eine Spitaleinlieferung gesträubt hatte. Er wolle keine Spezialbehandlung, sagte er, solange kranke Mit-Häftlinge im Gefängnis mit Placebos abgefertigt würden. So starb er am Ende in der jahrhundertealten Tradition vieler seiner Ordensbrüder, die wegen ihrem Glauben in den Tod gegangen waren: als Märtyrer.