Der Bergeller Maler Augusto Giacometti (1877–1947) war weltmännisch gewandt und höchst erfolgreich. Ihm widmet das Kunsthaus in Aarau eine grosse Retrospektive mit dem Titel «Freiheit – Auftrag».
Sie stammten beide aus dem gleichen entlegenen Bündner Bergtal, aus dem Bergell. Sie waren ähnlich alt, und sie waren verwandt. Beide waren sie Maler. Trotzdem führen Vergleiche zwischen Augusto und Giovanni Giacometti (1868–1933), seinem Vetter zweiten Grades, nicht sehr weit: Die beiden Künstler sind von je anderer Natur und von anderem künstlerischem Selbstverständnis. Giovanni blieb der stilistisch recht einheitliche, expressiver Farbigkeit verpflichtete «Bergeller Maler». Das Bergell blieb sein Wohn- und Arbeitsort und weitgehend auch sein Sujet.
Stilistische Vielfalt, mit vielen Politgrössen in Kontakt
Augustos Lebensmittelpunkt aber war ab 1915, nach Paris und Florenz, Zürich. Seine Kunst war mehreren Wechseln unterworfen: Jugendstil, Symbolismus, Neoimpressionismus lösten sich ab. Zu Beginn war sie avantgardistisch und experimentierfreudig. (Augusto war, u. a. mit Hans Arp, Alice Bailly, Niklaus Stoecklin, Mitglied der dem Expressionismus verpflichteten Künstlergruppe «Das neue Leben».) Bald jedoch fand der auch in bürgerlichen Kreisen erfolgreiche und mit seinen Blumenbildern beliebte Maler breite Anerkennung und erreichte den Status eines eigentlichen «Staatskünstlers»: Er wurde schweizweit bedacht mit vielen prominenten und grossen öffentlichen Aufträgen für Wand- und Glasmalereien.
Dem Künstler, der seit 1919 Mitglied der Freimaurer-Loge «Modestia cum Libertate» war, boten sich auch zahlreiche Ausstellungsmöglichkeiten. 1932 war er mit sieben Werken an der Biennale Venedig vertreten. Ein Bild kaufte gar Italiens König Vittorio Emmanuele III.) Als Mitglied (ab 1934) und Präsident (von 1939 bis 1947) der Eidgenössischen Kunstkommission war er auch kulturpolitisch engagiert und in der ganzen Schweiz unterwegs als Jurymitglied und Kunst-Gutachter. Der stets elegant gekleidete Augusto ist wohl der am meisten mit Politgrössen zusammen fotografierte Schweizer Künstler.
Zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion
Was den auch international vernetzten Augusto vor allem vom neun Jahre älteren Giovanni unterscheidet: Seine Person und teilweise auch sein Werk sind eingebunden in die Strömungen der europäischen Kunst. Er pflegte Kontakte zu Dadaismus und Futurismus, ohne dass man ihn allerdings einen Dadaisten oder Futuristen nennen könnte, sowie mit Vertretern der österreichischen Moderne. Wesentlich zukunftsgerichtet ist sein Werk im Ausloten der Spannungen zwischen Gegenständlichkeit, Ungegenständlichkeit und Abstraktion.
Ein Pionier war er aber insofern nicht, als seine frühen Experimente mit Abstraktion keine Nachfolge fanden und auch erst in den 1950er Jahren im Zusammenhang mit der amerikanischen Nachkriegs-Abstraktion, Informel und Tachismus rezipiert wurden. Ab den 1930er Jahren schlichen sich mitunter Routine und Gefälligkeit in die «unproblematischen» bunten Blumenbilder und in die neoimpressionistischen Landschaftsmalereien des vielbeschäftigten Künstlers ein. Der nie um eine Polemik verlegene Peter Meyer, Werk-Redaktor und Professor für Kunstgeschichte, geisselte 1937 diese Routine Giacomettis und die «aussergewöhnliche Propaganda», welche im offiziellen Zürich für den Künstler betrieben wurde. Meyer bezog sich in seiner Kritik auf das Wandbild Giacomettis im Zürcher Amtshaus V (1936).
Wand- und Glasmalerei
Die von der Aarauer Museumsdirektorin Katharina Ammann sowie von Michael Egli und Denise Frey (beide vom Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft) betreute Ausstellung steht unter dem Titel «Freiheit – Auftrag» und rückt damit die beiden Hauptstränge der Tätigkeit Giacomettis in den Fokus – einerseits seine freie und gewissermassen «private» Maltätigkeit, andererseits seine ortsgebundenen und im öffentlichen Auftrag entstandenen Werke wie Glasmalereien in Kirchen und Wandmalereien. Dass sich diese Stränge teils vermischen, dass auch Auftragskunst bei aller Rücksicht auf ein breites Publikum von künstlerischer Freiheit lebt, dass vor allem Augusto Giacomettis intensive und innerhalb der Schweizerkunst seiner Zeit selten intensive Beschäftigung mit der Farbe seine Wand- und Glasmalereien prägte, wird in der Ausstellung auf schöne Weise deutlich.
Das wichtigste Dilemma vermag die Ausstellung allerdings nicht zu lösen: Naturgemäss lassen sich öffentliche Auftragswerke nicht so einfach ins Museum bringen. Auch Fotos, auf die man zum Glück verzichtete, ersetzen den Gang vor die Werke nicht und vermitteln bei aller Genauigkeit ein eindimensionales Bild. Dass der Griff zu Dokumenten und Entwürfen nicht immer ein Notbehelf sein muss, liegt daran, dass manche Dokumente wertvollen Aufschluss über Hintergründe geben und manche Studien den Charakter eigenständiger und ausstellungswürdiger Werke annehmen.
Bestes Beispiel dafür ist der grossformatige Entwurf für die ab 1922 erfolgte flächendeckende Ausmalung des Gewölbes der Halle im Amtshaus I in Zürich (Bahnhofquai 3), die der Volksmund wegen ihrer extrem bunt ausbrechenden Farbigkeit und wegen ihrer floralen Motive «Blüemlihalle» taufte. Anhand von Entwürfen und Studien lässt sich auch belegen, wie intensiv Giacometti sich mit den ihm gestellten Aufgaben im Bereich der Glasmalerei auseinandersetzte und wo er sich inspirieren liess – zum Beispiel im Erleben, Umsetzen und Weiterentwickeln mittelalterlicher Glasmalereien, denen er ihm Musée Cluny in Paris begegnete. Dieses Erleben führte zu erstaunlich frühen und innerhalb der Schweizer Kunst einzigartigen Experimenten mit Farben und ungegenständlichen Formen: Eine erste Fassung dieser Auseinandersetzung stammt aus dem Jahr 1899, eine zweite von 1931. Einige wenige originale Glasmalereien und Wandbildfragmente kann die Ausstellung zeigen. Schade ist, dass eines der wenigen nicht standortgebundenen Mosaiken, die «Vogelpredigt von Franz von Assisi» (1913), aus logistischen Gründen den Weg nach Aarau nicht antreten konnte.
«Die Freude» als perfekter Einstieg
Im ersten Ausstellungsraum begegnen wir einem Selbstporträt Augustos aus dem Jahr 1941. Die Wand ist mit einer Tapete überzogen, deren Muster auf einem von Giacometti 1896 entworfenen Ornament beruht. Dieses Ornament steht in der Tradition des Jugendstilkünstlers Eugène Grasset, dessen Unterricht Augusto in Paris besuchte. Weiter präsentiert dieser Raum das extreme Hochformat Augustos mit dem Titel «Die Freude» von 1922, mit seinem Farbrausch ein perfekter Einstieg ins freie malerische Werk des Künstlers, dessen frühere kleinformartige abstrakte Farbexperimente (parallel zu Aarau sind sie im Kunstmuseum Chur in der Ausstellung neben anderen Arbeiten auf Papier zu sehen) hier ins Grossformat durchschlagen.
Das Werk bezeugt die freudigen, aber stets mit Bedacht kontrollierten Emotionen des Künstler, die in einem spielerischen Ernst oder ernsten Spiel mit den Farben gründen. Damit weist es über einen dem Jugendstil und dem Symbolismus in Augusto Giacomettis Werk gewidmeten Raum hinaus auf einen Hauptakzent im Schaffen dieses Künstlers – auf die Emanzipation der Farbe, die seine nächtlichen Städtebilder mit ihren Lichtreflexen und Leuchtschriften prägt. Emanzipiert hat sich die Farbe als eigenständige Bildkomponente auch in den hier zahlreich vertretenen Bergeller Landschaften.
«Chromatische Phantasien»
Einen wichtigen Akzent in der Ausstellung setzen die «Chromatischen Phantasien» der Zeit um 1911/12, quadratische Malereien, in denen der Künstler Farbflecken lose auf die Leinwand setzte in einer Art, die an den Pointillismus erinnert. Es sind die wohl bekanntesten Malereien Giacomettis. Der Farbauftrag wirkt spontan, ohne willkürlich zu sein. Er vermittelt eine natürlich atmende Atmosphäre, ohne auf erkennbare Gegenstände zurückzugreifen. Interessant ist, dass Giacometti einer dieser «Chromatischen Phantasien» von 1912 trotzdem einen Titel gab: «Eine Besteigung des Piz Duan». Piz Duan ist ein gut 3100 Meter hoher, die Bergell-Landschaft prägender Berg, und es liesse sich durchaus vorstellen, dass sich der Künstler beim Anstieg durch die Nahsicht auf ein frühlingshaft-lichtvolles Gelände zu seiner Malerei anregen liess. Das einige Jahre später entstandene Werk «Sommernacht», das schon in den 1960er Jahren den Weg ins MOMA in New York gefunden hat, ist ein intensivstes Leuchten am schwarzen Nachthimmel. Zusammen mit dem «Duan»-Bild ist es eine Vorwegnahme manchen Kunstgeschehens der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg – unter völlig anderen, vor allem unpolitischen Voraussetzungen: Weltpolitische Verwerfungen fanden ja kam je einen erkennbaren Niederschlag in Giacomettis Werk.
Selbstbildnisse und Blumen
Die Ausstellung belegt auch, dass sich Giacometti immer wieder mit dem Selbstbildnis befasste. An der in Aarau gezeigten Reihe lässt sich seine künstlerische Entwicklung ablesen, die ihn auch in dieser Reihe immer wieder die Grenzen zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion ausloten liess. Schade auch hier, dass sich ein bedeutendes Werk nicht beibringen liess – eine ovale, von Tönen zwischen tiefem Rot und hellem Gelb dominierte Komposition, die nichts Erkennbares zeigt, und doch den Titel «Selbstbildnis» trägt. Es liesse sich wohl als eigentliches künstlerisches Bekenntnisbild lesen. Und schliesslich, dicht gehängt an einer Wand, die vielen Blumenbilder, die Augusto Giacometti über all die Jahre mit routinierter Qualität malte – dem Künstler zum befreienden Ausgleich und bestimmt, den Gang in die bürgerlichen Salons anzutreten.
Augusto Giacometti (1877 geboren in Stampa, 1947 gestorben in Zürich). Ausbildung: Kunstgewerbeschule Zürich, Paris beim Jugendstil-Künstler Eugène Grasset. Niederlassung in Florenz und ab 1915 in Zürich. Durchbruch 1922/25 mit dem Ausmalen der Eingangshalle der Polizeiwache im Amtshaus I in Zürich. Zahlreiche Wandbilder (z. B. Börse in Zürich) und Glasmalereien u. a. in Zürich (Grossmünster, Fraumünster, Wasserkirche) und im Kanton Graubünden (u. a. Küblis, Zuoz, Borgonovo, Davos). Ausstellungen in neuerer Zeit: Retrospektive im Bündner Kunstmuseum Chur (1981), Kunstmuseum Luzern (1987), Bündner Kunstmuseum Chur (2003 über seinen Beitrag zur Abstraktion), Kunstmuseum Bern (2014: «Die Farbe und ich»).
Das Schweizerische Institut für Kunstwissenschaft (SIK/ISEA) veröffentlichte kürzlich den Oeuvre-Katalog Augusto Giacometti, der auch online einsehbar ist (www.augusto-giacometti.ch).
2022 erschien im Verlag Scheidgger & Spiess, Zürich die Biographie «Augusto Giacometti – In einem förmlichen Farbentaumel» von Marco Giacometti.
Aargauer Kunsthaus Aarau. Bis 20.05.2024.
Das Bündner Kunstmuseum in Chur zeigt parallel dazu unter dem Titel «Contemplazione» Augusto Giacomettis Arbeiten auf Papier. Bis 28.04.2024.