Rund 15 Millionen Menschen werden von keinem Staat der Welt als Bürger akzeptiert. Ihnen fehlt der Schutz persönlicher und politischer Rechte; mit Hannah Arendt gesprochen: das Recht, Rechte zu haben. Hotspots des Problems befinden sich in Asien und Afrika.
Staatenlosigkeit im heutigen Sinn trat erstmals nach dem Ersten Weltkrieg in grossem Umfang auf. Damals wurden in Europa Grenzen neu gezogen und Millionen von Menschen wegen «falscher» ethnischer Zugehörigkeit oder aus anderen Gründen vertrieben. Ausserdem verliess eine grosse Zahl von Russen wegen der Revolution ihre Heimat. Diese erzwungenen Migrationen führten meist zum Verlust der Staatsangehörigkeit.
Eine zweite grosse Welle von Staatenlosigkeit folgte wenig später mit der nationalsozialistischen Machtübernahme. Hitler machte bereits ab 1933 die massenhafte Ausbürgerung zu einer Waffe des NS-Staats gegen Juden und Andersdenkende. Keine Staatsbürgerschaft, ja überhaupt keine Papiere zu haben, war ein Problem, welches die Lage zahlloser Flüchtlinge erst recht hoffnungslos machte. Erich Maria Remarques letzter Roman, «Die Nacht von Lissabon», 1962 erschienen, ist eines der eindrücklichsten literarischen Monumente dieser Flüchtlingsschicksale.
Aus rechtlicher Sicht inexistent
Was bedeutet es, von keinem Land der Welt als Bürgerin oder Bürger anerkannt zu sein?
Staatsbürgerschaft verleiht einem Menschen bestimmte Rechte. Die in die USA emigrierte deutsche Philosophin Hannah Arendt war als Jüdin aus Deutschland ausgebürgert worden. Durch diese Erfahrung wurde sie aufmerksam auf die grundlegende Bedeutung des Rechts, Rechte zu haben. Staatenlosigkeit bedeutet das Fehlen dieses Fundamentalrechts, welches die Voraussetzung aller einzelnen Rechte der Person bildet.
Praktisch zieht Staatenlosigkeit die Unmöglichkeit nach sich, einen Identitätsnachweis wie beispielsweise einen Reisepass zu erlangen. Staatenlose können sich somit nicht als Rechtssubjekte ausweisen, nicht heiraten, keine gültigen Verträge schliessen. Sie sind aus rechtlicher Sicht quasi inexistent. Ein Leben als staatenlose Person ist voller unerwarteter Hindernisse. Es findet in einem gesellschaftlichen Niemandsland statt.
Staatenlos auch im eigenen Land
Doch wer ist eigentlich heute staatenlos? Europa ist nicht mehr Hauptschauplatz des Problems; es findet anderswo statt. Das Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge UNHCR nimmt an, dass es gegenwärtig weltweit rund zehn Millionen Staatenlose gibt (Zahlen von Ende 2020). Offiziell als staatenlos registriert sind etwas über vier Millionen, doch da weniger als die Hälfte aller Länder den Status der Staatenlosigkeit erfassen und melden, macht das UNHCR eine Schätzung.
Mehr als 70 Prozent der Staatenlosen sind keine Flüchtlinge, sondern leben in ihrem angestammten Land ohne Bürgerrechte. Die meisten Staatenlosen gibt es in Asien, besonders in Bangladesch (876’000), Myanmar (600’000) und Thailand (481’000). Die hohen Zahlen in Bangladesch sind auf die staatenlosen Rohingya zurückzuführen, die nach gewaltsamen Übergriffen aus Myanmar ins Nachbarland geflohen sind.
Einen besonderen Fall stellen die Palästinenser dar. Ein Grossteil der weltweit 13 Millionen Palästinenser besitzt nicht das Bürgerrecht eines anderen Staates. Diese Menschen sind formell Staatenlose, weil Palästina nicht als Staat anerkannt ist. In der Statistik des UNHCR tauchen sie aber nicht auf, weil seit 1949 eine andere Uno-Organisation für sie zuständig ist: die UNRWA (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East). Zählt man die Palästinenser mit, die von keinem anerkannten Staat als Bürger akzeptiert sind, so dürfte die Zahl der Staatenlosen weltweit bei rund 15 Millionen liegen.
Zahlreich sind die Staatenlosen auch in Afrika. Die meisten leben in Côte d’Ivoire (955’000). Hier wanderten nach der Unabhängigkeit 1960 viele aus Burkina Faso ein, die keinen Anspruch auf die ivorische Staatsbürgerschaft erlangen konnten und gleichzeitig diejenige ihres Herkunftslands Burkina Faso verloren. Zudem gibt es in der Subsahara-Region eine Vielzahl von Nomadenstämmen, die sich in die nachkolonialen Staatsstrukturen nicht eingliedern und von diesen auch nicht als Staatsangehörige gewollt und anerkannt sind.
Staatenlose Russen und Roma
Die Veränderung staatlicher Formationen ist auch im heutigen Europa Ursache von Staatenlosigkeit. So hat die nationale Restitution der Baltischen Staaten nach dem Zerfall der Sowjetunion dazu geführt, dass dort lebende Russinnen und Russen quasi zwischen die Fronten geraten sind: In Lettland (209’000) und Estland (73’000) leben Minderheiten ohne, beziehungsweise «mit unbestimmter» Staatsangehörigkeit.
Eine weitere vielfach staatenlose Minderheit in Europa sind die Angehörigen der Roma-Gemeinschaft. Viele von ihnen wurden nach dem Zerfall Jugoslawiens von keinem der neuen Balkanstaaten als Bürger anerkannt.
Ebenfalls betroffen sind nach Europa Geflüchtete, die entweder bereits im Herkunftsland oder auf der Flucht ihre Staatsangehörigkeit verloren. Dies trifft oft auf neugeborene Kinder zu, wenn ihre Mütter allein unterwegs sind. Da etliche muslimische Länder eine Weitergabe der Staatsbürgerschaft durch Frauen nicht zulassen, kommen deren Kinder als Staatenlose zur Welt.
Staatenlosigkeit tritt in vielen unterschiedlichen Erscheinungsformen auf. Ihr gemeinsamer Nenner ist stets das fehlende Recht auf Rechte. Sind Gruppen betroffen, die als ethnische Minderheiten einer Mehrheitsgesellschaft gegenüberstehen, so fehlt diesen oft das Recht auf politische Mitbestimmung sowie auf Anerkennung und Förderung ihrer Sprache und Kultur. Häufig aber greift die Rechtlosigkeit Staatenloser viel direkter und massiver in deren persönliche Existenz ein: kein (oder erschwerter) Zugang zu Bildung, Medizin, sozialer Unterstützung und juristischem Schutz.
Staatenlose und «Ungeklärte»
In der Schweiz gab es im Jahr 2021 laut BFS (Bundesamt für Statistik) 578 Staatenlose. Die Zahl ist deshalb so klein (sie steigt seit ein paar Jahren stetig), weil sie nur Personen mit amtlich anerkannter Staatenlosigkeit erfasst. Für diese Anerkennung besteht aufgrund völkerrechtlicher Vorgaben ein geregeltes Prozedere, und sie ebnet in der Regel den Weg zu einer Einbürgerung.
Um ein Mehrfaches grösser als die der Staatenlosen ist die Zahl der Menschen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit. Sie umfasst zum einen diejenigen, deren Staatenlosigkeit (noch) nicht amtlich anerkannt ist, zum anderen aber auch Asylsuchende, die ihre Herkunft nicht dokumentieren können, beispielsweise weil ihnen die Papiere auf der Flucht abgenommen wurden. Ebenfalls zu den «Ungeklärten» gehören jene, die ihre Herkunft bewusst verschleiern, weil ihr Land als «sicher» gilt und sie eine Rückführung verhindern wollen – eine Gruppe, die sich naturgemäss nicht statistisch separieren lässt.
Etwas salopp könnte man daher sagen: Die anerkannten Staatenlosen bei uns sind nicht das Problem. Sie sind in gewisser Weise bereits eingegliedert und fallen zahlenmässig auch nicht sehr ins Gewicht.
Dramatisch ist die Lage hingegen für Menschen, die als faktisch Staatenlose ohne Anerkennung ihres Status im eigenen oder in einem fremden Land leben. Für sie ist Staatenlosigkeit Teil eines ganzen Knäuels von Problemen, wie Armut, Ausgrenzung, Vertreibung. Dass man ihnen die Staatsangehörigkeit entzieht und verweigert, ist nichts anderes als der Versuch, ihnen ein Entkommen aus der hoffnungslosen Lage zu verunmöglichen.
Die Überwindung der Staatenlosigkeit wäre oft ein Schlüssel, um die Lage der Ausgegrenzten zum Besseren zu wenden. Wer das Recht erlangt, Rechte zu haben, bekommt ein machtvolles Mittel zur Gestaltung seines Lebens in die Hand.