Nicht nur in Cherson wird gefeiert. Auch in anderen ukrainischen Städten wie in Kiew und Odessa gingen Tausende auf die Strassen. In Odessa mischte sich ein Brautpaar unter die Jubelnden. Überall wurde gesungen, Menschen, die sich nicht kannten, umarmten sich. Kerzen wurden angezündet, Babys wurden in die Luft gehoben. Doch der Krieg ist nicht vorbei.
Die Feiern begannen am Freitag, als ukrainische Verbände geordnet in Cherson einmarschierten. Sie wurden von einer euphorischen Menge begrüsst.
In Kiew wurde bis in die frühen Morgenstunden gefeiert.
Cherson ist die einzige Regionalhauptstadt, die die Russen eingenommen haben, und zwar in den ersten Kriegstagen.
Über dem Stadthaus wurde jetzt die ukrainische Flagge gehisst. Die russische war schon vor einigen Tagen eingezogen worden.
Gross ist die Erleichterung über die Rückeroberung von Cherson in Odessa. In der Hafenstadt Odessa versammelten sich bis in die Morgenstunden Tausende Menschen.
Odessa war schon seit Kriegsbeginn im Visier der Russen. Ursprüngliches Ziel der russischen Streitkräfte war es, die gesamte Südküste der Ukraine, inklusive Odessa, zu erobern und dann bis ins moldawische Transnistrien vorzustossen. Damit würde die Ukraine zum Binnenland, verlöre die fruchtbaren Gebiete im Süden und die Einnahmen der grossen Schwarzmeer-Häfen.
Es wird gestorben und gestorben
Viele warnen vor Euphorie. Jurij Sak, ein Berater des ukrainischen Verteidigungsministers, erklärte, die Russen seien von Panik ergriffen. «Wir sehen auch die Panik in ihrer Propagandamaschine», sagte er der BBC.
Doch gleichzeitig warnte er. «Natürlich ist dies ein sehr wichtiger Moment, aber ... dieser Krieg ist noch lange nicht vorbei.» Und vor allem: Es wird weiter gestorben und gestorben.
«Mit erdrückender Mehrheit»
«Auf dringenden Wunsch der Bevölkerung», hatte der russische Propaganda-Apparat Ende September verlauten lassen, sei Cherson Russland angegliedert worden. Schon wurde der Rubel eingeführt. In einer Volksabstimmung, hiess es, hätten die Einwohner von Cherson mit «erdrückender» Mehrheit für den Anschluss an Russland gestimmt. «Mit erdrückender Mehrheit»? Wie ist dann der Jubel Zehntausender zu verstehen, als die ukrainische Armee am Freitag in der Stadt einmarschierte?
Früher lebten 320’000 Menschen in Cherson. Zur Zeit sind es noch etwa 80’000. Ein grosser Teil ist geflohen. 115’000 Menschen seien von den Russen «evakuiert», das heisst: auf die Krim deportiert worden. Dies berichtet das britische Verteidigungsministerium.
Hilfe aus Mykolajiw
Zur Zeit fehlt es in Cherson an fliessendem Wasser, Lebensmitteln, Medikamenten und Strom. Hilfsgüter trafen schon am Samstag aus der nahegelegenen Stadt Mykolajiw ein. Mykolajiw liegt westlich von Cherson und wird seit Monaten von den Russen beschossen. Am Freitag, dem Tag des russischen Rückzugs aus Cherson, gingen in der Stadt Dutzende Raketen nieder und töteten zahlreiche Menschen.
Ukrainische Beamte befürchten, dass die Russen jetzt ihre Raketenangriffe auf Infrastrukturen in der Region Kiew und anderen Städten wieder intensivieren.
Nach russischen Angaben wurden in Cherson etwa 30’000 russische Soldaten, die sich am Westufer des Dnipro festgesetzt hatten, abgezogen. Offenbar hatte der Rückzug nach westlichen Geheimdienstkreisen schon am 22. Oktober begonnen, da den Russen die Lebensmittel ausgingen. Viele der Soldaten seien, als Zivilisten getarnt, abgezogen worden. Auch schwere Waffen waren von den Russen aufs östliche Ufer des Dnipro zurückgebracht worden.
Nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums haben die Russen bei ihrem Rückzug Verbindungen über den Dnipro-Fluss zerstört. Satelliten-Aufnahmen zeigen, wie die wichtige Antoniwski-Brücke eingestürzt ist.
Satellitenaufnahmen zeigen auch Zerstörungen am Nowa Kachowka-Staudamm 58 Kilometer nördlich von Cherson. Würde der Staudamm brechen, würde die Stadt Cherson überflutet.
Videos, die in den sozialen Netzwerken zirkulieren, zeigen eine gewaltige Explosion auf dem Damm.
Das Satellitenbild-Unternehmen Maxar, das die Fotos vom Damm aufgenommen hat, erklärt, dass Teile des Damms und einige Schleusentore zerstört worden seien. Über den Damm führen eine Strasse und eine Eisenbahnlinie; beide wurden unterbrochen.
Da die Russen nun Cherson als Regionalhauptstadt geräumt haben, mussten sie ihre Zelte anderswo aufschlagen. Am Samstag wurde bekannt, dass Henitschesk, ein 20’000-Einwohner-Städtchen am Asowschen Meer, Cherson als Regionalhauptstadt ersetzen soll.
Wie weiter?
Militäranalysten, Diplomaten und Beamte spekulieren, wie es jetzt weitergeht. Einige erklären, dass es in den kommenden Wochen zu einer Kampfpause oder vielleicht gar zu Friedensgesprächen kommen könnte. Das offizielle Russland hat sich in den letzten Tagen rhetorisch eher zurückgehalten und auch das Getreideabkommen nicht mehr torpediert. Das könnte darauf hindeuten, dass Moskau eine Lösung anstrebt.
General Mark A. Milley, der Vorsitzende des US-Generalstabs, sagte, dass der Winter als Ruhepause benutzt werden soll. «Dies wäre ein guter Zeitpunkt für Gespräche», erklärte er.
«Wir wollen keine Feuerpause»
Die Ukraine jedoch, von der Rückeroberung Chersons beflügelt, will weitermachen. In Kiew befürchtet man, dass die Russen mit dem Rückzug nur Zeit gewinnen wollen, um ihre neuen Reservetruppen auszubilden und um dann mit ihnen eine Gegenoffensive zu starten. Deshalb will man jetzt, da die Russen desorganisiert und blamiert sind, noch möglichst viel Gelände dazugewinnen. Man will die russische Schwäche ausnützen, bevor sich die Russen neu organisiert haben.
Am Wochenende jedenfalls gab es keine Anzeichen, dass die Ukrainer ihre Offensive einstellen und sich mit einer Patt-Situation zufriedengeben. «Wir wollen keine Feuerpause», hiess es auf Twitter, «dies ist unser Land, die Russen müssen raus!»
Ein Keil zwischen Ost und Süd?
Es wird jetzt viel spekuliert. Dazu gehört auch, dass die Ukrainer vor dem Winter noch einen Keil zwischen den im Süden und den im Osten besetzten russischen Gebieten treiben wollen. Das würde die Versorgung der russischen Truppen erschweren. Dann wäre die Krim in Reichweite der präzisen Himars-Raketen.
Analysten betonen jedoch auch, dass es für die Ukrainer riskant wäre, die Russen auf der linken, östlichen Seite des Dnipro zu verfolgen. Satellitenbilder zeigen, wie russische Verbände Schützengräben ausheben und ihre Verteidigungspositionen verstärken. Doch offenbar fürchten die Russen Schlimmes. Selbst an den Zugängen zur Krim wurden kilometerlange Gräben ausgehoben.
«Es mehren sich die Hinweise», erklären Militäranalysten der New York Times, «dass die Ukrainer eine neue Landoffensive zwischen den beiden Fronten (der südlichen und der östlichen) vorbereiten.» Ziel wäre ein Vorstoss durch die Region Saporischschja bis nach Melitopol oder Mariupol.
Russisches Aufbäumen?
Anderseits, auch das sind Spekulationen, könnten die Russen, um ihr Gesicht nicht ganz zu verlieren, versuchen, im Donbass eine wichtige Stadt zu erobern, vielleicht Bachmut, westlich von Luhansk. Dort toben seit Wochen schwerste Kämpfe.
Unerwähnt bei militärischen Lagebeschreibungen bleibt oft, dass der Krieg riesige Opfer fordert. General Milley sagte, dass Russland und die Ukraine in weniger als neun Monaten Krieg jeweils mehr als 100’000 Tote und Verwundete zu beklagen hätten.
Keine der beiden Seiten veröffentlicht glaubhafte Opferzahlen. Die «Kiyv Post» berichtet, die Russen hätten 80’210 Soldaten verloren. Solche Angaben sind umstritten, sie könnten auch dazu dienen, die Moral der eigenen Truppe zu festigen.