Nach wochenlangen äusserst blutigen Strassenkämpfen ziehen die Helden ab. Um nicht ganz aufgerieben zu werden, verlassen die ukrainischen Verbände die ostukrainische Stadt Sewerodonezk. Das gibt den Russen psychologischen Auftrieb.
Die New York Times schreibt, die ukrainische Armee stünde jetzt «vielleicht dem schwierigsten Moment seit den ersten Kriegswochen gegenüber».
Ob Sewerodonezk allerdings strategisch wirklich so wichtig ist, wie immer behauptet wurde – darüber gehen die Meinungen auseinander. Sicher aber ist: Die Stadt war ein Symbol des heldenhaften ukrainischen Widerstands. Die weit überlegenen Russen brauchten mehrere Wochen, um Sewerodonezk endlich, endlich zu erobern. Jeden Tag warfen die Russen Hunderte neue Kämpfer in die Schlacht. Nach ukrainischen Angaben verloren die Russen bei den Strassenkämpfen «Tausende Soldaten».
Schon vor zwei Wochen wurden die ukrainischen Kämpfer an den Rand der Stadt gedrängt und kontrollierten nur noch 30 Prozent des Stadtgebiets.
80 Prozent der Häuser schwer beschädigt
In der Stadt selbst, die einst 100'000 Einwohner zählte, befinden sich nach Angaben des Bürgermeisters vermutlich noch 10'000 Menschen. Viele haben in den Kellern des Azot-Chemiewerks Zuflucht gesucht. Seit Wochen wurde die Stadt fast pausenlos von russischer Artillerie und russischen Raketen beschossen. Die gesamte Infrastruktur von Sewerodonezk sei völlig zerstört, sagt Serji Haidai, der Gouverneur der Provinz Luhansk. Über 90 Prozent der Häuser seien beschossen und 80 Prozent von ihnen schwer beschädigt.
Nachdem die letzte der vier Brücken, die über den Donez-Fluss in die Stadt führt, gesprengt worden war, drohte den ukrainischen Verbänden, eingekesselt zu werden. Nach dem Fall des südlich von Sewerodonezk liegenden Dorfes Toschkiwka schien das Schicksal der ukrainischen Truppen besiegelt. Denn damit sprengten die Russen den Verteidigungsring um Sewerodonezk.
«Es macht einfach keinen Sinn, die Stellungen zu halten»
Nach Angaben des Bürgermeisters haben die russischen Streitkräfte am Samstag die volle Kontrolle über die zerstörte Stadt übernommen. «Die Russen haben Sewerodonezk vollständig besetzt, unser Militär hat sich in besser vorbereitete Stellungen zurückgezogen», sagte Bürgermeister Oleksandr Stryuk im ukrainischen Fernsehen.
«Es macht einfach keinen Sinn, Stellungen zu halten, die seit Monaten unablässig beschossen werden», sagte Haidai im ukrainischen Fernsehen.
«Die ukrainischen Streitkräfte haben den Befehl erhalten, sich auf neue Stellungen zurückzuziehen ... und ihre Operationen von dort aus fortzusetzen.»
Den Fluss durchschwimmen?
Unklar ist, wie der Rückzug der ukrainischen Streitkräfte aussehen soll. Die Stadt ist umzingelt. Die Zufahrtswege werden ständig beschossen. Da keine Brücken mehr ins ukrainisch dominierte Gebiet führen, müssten die ukrainischen Soldaten mit Booten über den Donez-Fluss flüchten – oder ihn durchschwimmen. Die Gefahr, beschossen zu werden, ist riesig. Der Leiter des Bezirks Sewerodonezk, Roman Wlasenko, erklärte gegenüber Radio Liberty, die ukrainischen Truppen befänden sich noch in der Stadt. Der Rückzug könne «noch einige Zeit dauern».
Militärisch mag der Rückzug Sinn machen. Denn die Ukrainer kämpften in Sewerodonezk einen fast hoffnungslosen Kampf. Sollen sie sich aufreiben und festnehmen lassen? Wenn ihnen die Flucht gelingt, können sie anderswo eingesetzt werden.
Schlecht ausgebildete russische Kämpfer
Sechs Wochen lang bissen sich die Russen die Zähne im Kampf um Sewerodonezk aus. Für Putin stand hier viel Prestige auf dem Spiel. Er soll dem russischen Militärkommandanten ein Ultimatum gestellt haben, nun endlich die Stadt zu erobern. Immer wieder wurden die Russen zurückgedrängt. Die russische Seite setzte schlecht ausgebildete Kämpfer der pro-russischen «Volksrepubliken» Luhansk und Donezk ein: «Kanonenfutter», wie der ukrainische Präsident Selenskyj sagte. Die Hälfte der Donezker Milizen seien ums Leben gekommen, hatte der britische Geheimdienst am Mittwoch erklärt. Die Ukrainer führten wahrlich einen heldenhaften Kampf, bei dem viele ums Leben kamen.
Den Russen waren die modernen, präzisen Waffen ausgegangen. So requirierten sie uralte sowjetische Raketen und Artilleriegeschosse. Diese sind extrem ungenau und verursachen deshalb riesige Kollateralschäden.
Dank dieser Kriegsführung, die die Russen in der ganzen Ukraine praktizieren, ist nun also Sewerodonezk gefallen.
Die angeschlagene russische Armee fasst neuen Mut
Damit beherrschen die russischen Streitkräfte fast die ganze ostukrainische Provinz Luhansk und weite Teile der Nachbarprovinz Donezk. Beide Provinzen (Oblaste) bilden den Donbass, den Putin zum (ersten) Ziel seiner Eroberungen in der Ukraine erklärt hatte.
Der Fall von Sewerodonezk gibt der offensichtlich angeschlagen russischen Armee neuen Mut und neuen Elan. Bereits finden grosse Angriffe auf die Zwillingsstadt Lyssytschansk statt. Lyssytschansk liegt auf einem Hügel auf der anderen Seite des Donez-Flusses. Westliche Beobachter schliessen nicht aus, dass auch Lyssytschansk, eine Stadt mit einst 100'000 Einwohnern, fallen wird. Dann werden die Russen vermutlich südwärts Richtung Slowjansk, Kramatorsk und Bachmut vorstossen. Bereits werden diese beiden Städte heftig beschossen.
Sind die Russen «am Rande ihrer Möglichkeiten»?
Doch noch ist längst nicht alles verloren für die Ukrainer. Die russische Armee gewinnt zwar «schleichend» Gebiete, wie der britische Geheimdienst sagt. Aber die Russen sind nach Ansicht westlicher Militärexperten «offensichtlich an ihrem Limit angelangt». Ob dies nur Wunschdenken ist, bleibe dahingestellt.
Lange könnten die Russen mit dieser Intensität nicht mehr Krieg führen, sagen amerikanische Thinktanks. Die Moral der russischen Truppen sei nach wie vor schlecht. Die Kämpfe, vor allen um Mariupol und jetzt um Sewerodonezk, hätten die russischen Streitkräfte arg dezimiert. Die Russen seien bereits «am Rande ihrer Möglichkeiten», sagt Andriy Zahorodnyuk, ein ehemaliger ukrainischer Minister.
Ukrainischer Vormarsch im Süden
Die Schwäche der russischen Armee bestehe darin, «dass sie immer nur an einem Ort wirklich kämpfen kann», sagte Zahorodnyuk. Ihnen fehle das Personal und das Material, um an mehreren Orten Krieg zu führen. Das einzige, was sie könnten, sei bombardieren.
In den letzten Wochen, so Zahorodnyuk, habe die Ukraine in einer langsamen Gegenoffensive in Richtung der südukrainischen Stadt Cherson mehr Land zurückerobert, als Russland in der Ostukraine erobert hat. Überprüfen lässt sich das nicht.
Ankunft amerikanischer Waffen
Vor allem setzen die Ukrainer jetzt natürlich auf die langsam eintreffenden westlichen Waffen.
Mit diesen modernen Geschossen steige die Wahrscheinlichkeit, dass die Ukraine die russischen Truppen auch aus dem Donbass vertreiben könne, sagte Nato-Generalsekretär Stoltenberg. Eingetroffen sind schon fast alle von den USA versprochenen 90 M777-Geschütze – inklusive 144’000 Artillerie-Granaten. Australien hat der Ukraine sechs M777-Haubitzen geliefert.
Bei vielen dieser Waffen handelt es sich um modernste Hightech-Systeme. Ihre anspruchsvolle Handhabung muss von den ukrainischen Truppen erst gelernt werden. Erste Exemplare des hochentwickelten HIMARS-Mehrfachraketen-Systems, dessen Geschosse eine Reichweite von 70 Kilometern haben, sind offenbar in der Ukraine eingetroffen. HIMARS wird jedoch nicht sofort zum Einsatz kommen, da die Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte dauert.
«Wir brauchen zehn Mal mehr Waffen»
Allerdings warnt die ukrainische Regierung vor Illusionen. «Wir brauchen mindestens zehn Mal mehr Waffen, als uns der Westen versprochen hat», sagt die stellvertretende ukrainische Ministerpräsidentin Hanna Maliar.
Die Front im Donbass reicht von Charkiw im Norden bis ans Schwarze Meer. Das sind tausend Kilometer. «Was nützen vier oder fünf oder sechs HIMARS-Batterien an dieser langen, langen Front?», fragen desillusioniert ukrainische Beamte.
Die einzige Hoffnung: die USA
Die Aufnahme der Ukraine als EU-Kandidat ist zwar symbolisch edel, kostet die Europäer allerdings gar nichts und beeinflusst den Krieg in keiner Weise. Ebensowenig Solidaritätskundgebungen, wie die nächtliche Reise von Macron, Scholz und Draghi nach Kiew. Das einzige, was zählt und was Putin beeindruckt, sind Waffen. Und da sind die Europäer zurückhaltend und spielen ein eher trauriges Spiel.
Deshalb ruht die ukrainische Hoffnung fast ganz auf Joe Biden. Die USA haben bisher Waffen im Wert von 35 Milliarden Dollar geliefert oder versprochen.
Der Krieg könnte noch lange dauern, sagt Nato-Generalsekretär Stoltenberg. Putin wird alles auf eine Karte setzen. Und vor den Vorwahlen in den USA kann sich Joe Biden eine Niederlage nicht leisten.