Eduard Trypilchenko fiel am vergangenen Montag bei Kämpfen im Donbass. Nach Angaben des ukrainischen Präsidenten sterben täglich bis zu hundert ukrainische Soldaten. Besonders heftig und blutig wird um die Zwillingsstädte Sewerodonezk und Lyssytschansk gekämpft. Am Donnerstag haben die Kämpfe «maximale Intensität» erreicht. Wie lange halten die Ukrainer die Stellungen?
- Kämpfe haben «maximale Intensität» erreicht
- Russen greifen an allen Fronten gleichzeitig an
- Ukrainische Truppen eingekesselt
- Kampf um Sewerodonezk und Lyssytschansk
- Selenskyj antwortet Kissinger
«Angriffe an allen Fronten gleichzeitig»
Die Kämpfe im Donbass haben am Donnerstag «maximale Intentität» erreicht, erklärt die stellvertretende ukrainische Verteidigungsministerin Hanna Maliar. Die Russen hätten begonnen, ukrainische Stellungen in mehreren Gebieten gleichzeitig zu stürmen.
«Seit heute führt der Angreifer verstärkten Beschuss entlang der gesamten Frontlinie in der Operationsregion Donezk durch. Der Feind setzt taktische Raketensysteme, Flugzeuge und Artillerie ein», sagt Hanna Maliar.
«Die Lage ist schwierig und es gibt Anzeichen für eine Eskalation. Der Feind hat alle Mittel eingesetzt, um unser Gebiet zu erobern und unsere Kräfte einzukesseln. Der Feind greift unsere Stellungen an verschiedenen Punkten gleichzeitig an. Es steht uns eine sehr schwierige und lange Phase des Kampfes bevor.»
Unter Druck wie noch nie
Die russischen Streitkräfte haben im Donbass Terrain gewonnen. Das ukrainische Militär steht unter Druck wie noch nie seit Beginn des Krieges. Im Donbass könnte sich in diesen Tagen nach Angaben von Militäranalysten das Schicksal der russischen Invasion entscheiden.
Russische Streitkräfte greifen nach Angaben des ukrainischen Militärs mehr als 40 Städte im ostukrainischen Donbass an. In Sewerodonezk sind russische Verbände bis in die Vororte der Stadt vorgedrungen. Sewerodonezk zählt noch etwa 80’000 Einwohner.
Russland hat Tausende Soldaten in die Region entsandt. Neben Sewerodonezk gehört die Zwillingsstadt Lyssytschansk zur Zeit zu den Hauptzielen der Russen. Getrennt werden die beiden Städte durch den Donez-Fluss.
In beiden Städten harren mehrere Hundert ukrainische Soldaten aus und versuchen, die Stellungen zu halten. Die hier eingesetzten ukrainischen Bataillone gehören zu den erfahrensten und besten der ukrainischen Armee. Sie werden von den Russen von drei Seiten angegriffen.
Wenn diese Städte fallen, würde die gesamte Provinz Luhansk unter russische Kontrolle geraten – ein wichtiges Kriegsziel des Kremls.
Neue russische Taktik?
Die Russen versuchen, die ostukrainischen Städte Sewerodonezk und Lyssjansk einzukesseln. Um dies zu erreichen, wollen sie eine Hauptverkehrsstrasse abschneiden, die von diesen beiden Städten nach Bachmut führt. In der vergangenen Nacht explodierten nach Angaben von Agence France Press entlang dieser Strasse Dutzende Sprengkörper.
Der Gouverneur der Region Luhansk, Serhiy Haidai, sagte, die Situation sei für die ukrainischen Streitkräfte «sehr, sehr schwierig». Die Gefahr besteht, dass vier ukrainische Bataillone mehr und mehr eingekreist werden. Dabei handelt es sich um die besten Truppen, die die Ukraine hat.
«Ich glaube, wir sehen hier eine neue Taktik der Russen. Anstatt mit gross angelegten Angriffen grosse Gebiete einzunehmen, knabbern sie sich Stück für Stück in ukrainisches Gebiet vor», sagt Haidai.
Am Sonntag hatte der Gouverneur von Luhansk, Serhiy Haidai, Russland vorgeworfen, bei seinen Bemühungen um die Einnahme von Sewerodonezk eine Strategie der «verbrannten Erde» zu betreiben.
Haidai erklärte, dass die russischen Streitkräfte bis auf eine Brücke über den Donezk-Fluss alle Brücken zerstört hätten und dass die Stadt Gefahr laufe, von der Aussenwelt abgeschnitten zu werden.
Da rund um Sewerodonezk und Lyssytschansk gekämpft wird, wird der Bevölkerung jede Fluchtmöglichkeit verwehrt.
Russische Soldaten in Lyman
Heftige Angriffe führen die Russen auch auf die Stadt Lyman durch. Lyman ist ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt. Wenn es den Russen gelingt, die Kontrolle über die Stadt zu erlangen, könnte das nächste russische Ziel die Stadt Slowjansk sein. Dort drohen ukrainische Truppen, eingekesselt zu werden.
Über den Verlauf der Kämpfe bei Lyman gibt es unterschiedliche Versionen. Oleksandr Motuzyanyk, der Sprecher des ukrainischen Militärministeriums, sagte, der russische Vorstoss, Lyman «vollständig zu übernehmen», sei «nicht erfolgreich». Bilder in den sozialen Medien zeigten jedoch russische Soldaten in nördlichen Vororten der Stadt. Andere Berichte sprechen davon, dass sich bereits russische Panzer in der Stadt befinden.
«Strategisches Missmanagement»
Die russischen Luftlandetruppen haben in der Ukraine nach britischen Angaben «mehrere bemerkenswerte strategische Fehler» begangen. Wie der Geheimdienst des britischen Verteidigungsministerium am Donnerstag schreibt, wurden die Luftlandetruppen dort eingesetzt, wo schwer gepanzerte Infanterie hätten eingesetzt werden müssen. Als Beispiel nennt der Geheimdienst den versuchten Vorstoss auf die ukrainische Hauptstadt Kiew über den Flugplatz Hostomel im März und den seit April ins Stocken geratene Vormarsch um Isjum im Osten. «Gescheitert und kostspielig» war der Versuch, den Fluss Siverskij Donez zu überqueren. Die 45’000 Mann starken Luftlandetruppen würden grösstenteils aus professionellen Vertragssoldaten bestehen, sagt das Verteidigungsministerium. Ihre Mitglieder würden einen «Elitestatus geniessen und werden zusätzlich bezahlt».
Selenskyj antwortet Kissinger
1938 wollten westliche Staaten die Nazis beschwichtigen. Am 29. September 1938 trafen sich die Staats- und Regierungschefs aus Deutschland, Italien, Frankeich und Grossbritannien in München, um über das Ende der «Sudetenkrise» zu verhandeln. Eine «Appeasement-Politik» sollte den Frieden in Europa auf Kosten der Tschechoslowakei sichern. Ein historischer Irrtum.
Diesen gleichen historischen Irrtum wolle nun der 98-jährige Henry Kissinger, der frühere amerikanische Aussenminister begehen. So sieht es der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj. Kissinger hat in einer Video-Botschaft, die ans WEF in Davos übertragen wurde, vorgeschlagen, den Russen Gebiete in der Ukraine abzutreten, um so Frieden zu schaffen.
Selenskyj antwortet: «Man hat den Eindruck, dass Herr Kissinger nicht das Jahr 2022 auf seinem Kalender stehen hat, sondern das Jahr 1938, und dass er glaubt, er spreche nicht zu einem Publikum in Davos, sondern damals in München.»
Ein ukrainischer Beamter kommentierte: «Wenn wir den Russen den kleinen Finger geben, wollen sie die ganze Hand.»
«Wir dürfen nicht den Fuss vom Gaspedal nehmen»
Auch Grossbritannien kritisiert Kissingers Vorschlag, den Russen Gebiete in der Ukraine abzutreten. Die britische Aussenministerin Liz Truss bezeichnete Versuche, Wladimir Putin zu beschwichtigen, als gefährlich. «Die russische Aggression kann nicht beschwichtigt werden. Ihr muss mit Gewalt begegnet werden. Wir müssen unnachgiebig sein und den Sieg der Ukraine mit militärischer Unterstützung und Sanktionen sicherstellen. Wir können jetzt nicht mehr den Fuss vom Gaspedal nehmen», sagte sie.
Die Asowstal-Kämpfer bleiben in Haft
Soll das Asowstal-Regiment als «terroristische Vereinigung» eingestuft werden. Das Regiment, dem über 2000 Kämpfer angehörten, hatte wochenland das Stahlwerk in Mariupol verteidigt. Letzte Woche hatten sich die letzten Kämpfer ergeben. Die Russen haben sie in eine Haftanstalt im Osten der Ukraine abgeführt. Der Oberste Gerichtshof Russlands hat nun eine Anhörung zur Frage, ob das Asow-Bataillon als terroristische Vereinigung eingestuft werden sollte, auf den 29. Juni verschoben. Kriegsgefangene müssen nach den Genfer Konventionen behandelt werden, Terroristen nicht.
Blockierte Gespräche mit der Türkei
Delegierte aus Finnland und Schweden hatten am Mittwoch fünf Stunden lang mit Abgeordneten der Türkei über den geplanten Nato-Beitritt der beiden nordischen Staaten diskutiert. Eine Einigung kam nicht zustande. Ein Sprecher des türkischen Präsidenten sagte, dass das Verfahren für den Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens nicht fortgesetzt werden könne, «ohne die Sicherheitsbedenken der Türkei zu berücksichtigen». Für die Genehmigung ihrer Beitrittsgesuche ist die einstimmige Zustimmung aller Nato-Mitglieder erforderlich. Die Türkei stört sich daran, dass Schweden und Finnland gegenüber kurdischen Kreisen eine wohlwollende Haltung eingenommen haben.
(Wird laufend aktualisiert)
Journal 21