Der Begriff hat eine unverdächtige Herkunft. Als «Dunkelziffer» wird ursprünglich die Relation zwischen angezeigten und nicht angezeigten Straftaten bezeichnet. Sie wird ermittelt auf der Grundlage diverser Befragungen und weiterer sozialstatistischer Methoden. Am grössten ist sie bei Delikten, bei denen eine Anzeige auf emotionale, familiäre oder soziale Widerstände stösst.
Die Kriminologie, die sich wissenschaftlich mit solchen Dingen befasst, spricht eher vom «Dunkelfeld». Sie beschreibt damit anschaulich den Sachverhalt der unaufgeklärten Verbrechen und vermeidet es, dabei von einer «Ziffer» zu reden.
Ausserhalb der Kriminologie ist die Dunkelziffer längst zu einer probaten Floskel geworden, um Fragen nach Fakten präventiv abzufangen. Skepsis ist immer dann am Platz, wenn von einer «riesigen Dunkelziffer» die Rede ist oder wenn es heisst, über die geschilderte Problematik hinaus sei «die Dunkelziffer noch viel höher». Kaum eine politische Forderung oder eine gesellschaftspolitische Initiative, die sich mit Graubereichen von Zusammenleben und Wirtschaft befasst, mag auf die rituelle Beschwörung dieser Währungseinheit des Ungefähren verzichten.
Umgekehrt taucht der Begriff auch bei Sachverhalten auf, bei denen gute Zahlen vorliegen. Wenn etwa bei den Sozialhilfeempfängern in der Schweiz eine «Dunkelziffer von 60 Prozent» geltend gemacht wird, so meint dies, aufgrund der Sozialstatistiken gäbe es 60 Prozent mehr Sozialhilfeberechtigte als –bezüger. Das kann vieles bedeuten, aber eine «Dunkelziffer» ist es nicht.
«Dunkelziffer»-Floskeln dienen oft als Vehikel für politische Botschaften, die man gerne etwas im Unklaren belässt, weil man sie nicht solide begründen kann. Sie kompensieren ihre Schwäche mit der moralistischen Unterstellung, «die Gesellschaft» sei am Vertuschen interessiert. Der Anteil manipulativen Sprachgebrauchs bei solchen Vorstössen ist schwierig zu schätzen. Es ist jedoch mit einer riesigen Dunkelziffer zu rechnen. (um)