Der nüchterne „Economist“ attestiert Angela Merkel in einem aktuellen Leitartikel „eine sichere Hand in einer turbulenten Welt“. Er weist darauf hin, dass die Arbeitslosigkeit in den bisher 12 Jahren ihrer Kanzlerschaft von 11.2 auf 3.8 Prozent gefallen ist. Sie habe nicht nur das eigene Land „stabil und unideologisch“ geführt, sondern auch innerhalb der EU eine wohltuend konstruktive Rolle gespielt.
Beneidenswerte Befindlichkeit
Die schrillen Stimmen, die noch vor zwei oder drei Jahren den unausweichlichen baldigen Zusammenbruch des Euro prophezeiten, sind verstummt. Der Euro liefere „das Comeback des Jahres“ war unlängst in der NZZ zu lesen. Auch die rabenschwarzen Überfremdungs- und Untergangsszenarien, die 2015 wegen der von Merkel vorübergehend ausgerufenen „Willkommenskultur“ für Flüchtlinge an die Wand gemalt wurden, sind nicht mehr das beherrschende Thema in Deutschland. Gemäss einer dieser Tage publizierten Infografik des Ifo-Instituts München sind die Deutschen heute im Durchschnitt zufriedener als je zuvor seit der Wiedervereinigung im Jahre 1991.
Das wohl höchste denkbare Lob formulierte schon im Februar der israelische Schriftsteller Amos Oz, als er in einem „Spiegel“-Interview erklärte, für ihn sei nach der niederschmetternden Wahl Donald Trumps Angela Merkel die natürliche Führerin der freien Welt.
Trotz dieser vergleichsweise beneidenswerten Befindlichkeit im wirtschaftlich und politisch einflussreichsten Land der EU fehlt es in manchen Spalten der Publizistik vor der Bundestagswahl am 24. September nicht an bärbeissigen, unheilschwangeren oder bitter-ironischen Kommentaren über Merkels Kanzlerschaft und die dabei angeblich verpassten Chancen.
Deutschland döst?
Interessanterweise liest man solche vergrämten wahlpolitischen Betrachtungen nicht nur von Publizisten aus der linken oder rechtsnationalen Ecke. Aus dieser Richtung entbehren Kritik und Pessimismus am weitverbreiteten Wohlgefühl in Deutschland ja nicht der inneren Logik. Schliesslich ist Angela Merkel für diese Lager die politische Hauptgegnerin, die den andern Parteien vor der Sonne steht und deren Popularität man deshalb herunterzureden versucht.
Doch die Nörgler am Merkel-Kurs und den Resultaten ihrer bisher zwölfjährigen Kanzlerschaft rekrutieren sich nicht nur aus dem Bereich der linken und rechtsnationalen Strömungen. Sie sind erstaunlich häufig auch aus dem breiten Spektrum in der Mitte zu vernehmen, das politisch vom liberalen bis zum bürgerlich-konservativen Ideengut reicht. „Deutschland döst“, lautet eine öfters und gerne verbreitete Formulierung zum laufenden deutschen Wahlkampf. Und schuld an diesem angeblich schläfrigen Zustand ist natürlich in erster Linie die durchtriebene Kanzlerin, die den Leuten Sand in die Augen streut, statt sie für kühne und weitblickende Visionen einzustimmen.
„Elend der Konsensdemokratie“
Den Vogel abgeschossen mit dieser Art von nörgelnder Miesmacherei hat unlängst die deutsche Essayistin und Schriftstellerin Cora Stephan mit einem Meinungsbeitrag in der NZZ. Die Arbeit der von Merkel geführten Grossen Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD charakterisierte sie mit folgenden Eigenschaften: „Grosser Konsens, Sichdurchwursteln ohne Widerspruch und Moral statt Politik.“ Und angesichts der als ziemlich sicher geltenden Fortsetzung von Merkels Kanzlerschaft stellt die Kommentatorin die von Asterix inspirierte Frage: „Die spinnen, die Deutschen?“
Immerhin räumt die unzufriedene Pamphletistin dann ein, dass wohl nicht alle Deutschen spinnen. Eines Tages könne man wohl auch den braven Zeitgenossen in Deutschland (gemeint sind offenbar die Merkel-Wähler) nicht mehr länger einreden, „man müsse den Terror als ein Naturereignis hinnehmen, am besten noch mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen“. Da muss man sich schon fragen, wer eigentlich spinnt – die Autorin oder ihre angeblich verschlafenen und naiven Mitbürger?
Cora Stephan spricht dann noch vom „Elend einer Konsensdemokratie namens grosse Koalition“. Und sie behauptet, im deutschen Parlament sei „längst eine Opposition in fundamentalen Fragen abhandengekommen“. Offenbar hat sie noch nicht wahrgenommen, dass im Bundestag auch die Grünen und „Die Linke“ vertreten sind. Was das „Elend der grossen Koalition“ betrifft (unter deren Regierung laut der erwähnten Ifo-Statistik immerhin ein Rekordwert an Zufriedenheit im Volke zustande gekommen ist), so besteht durchaus die Chance, dass nach dem 24. September ein neues Regierungsbündnis zustande kommt – möglicherweise eine sogenannte Jamaika-Koalition, zusammengesetzt aus CDU/CSU, einer erstarkten FDP und den Grünen. Werden dann die Kritiker in Deutschland immer noch über das „Elend einer Konsensdemokratie“ jammern?
Welche Visionen?
Andere Merkel-Kritiker werfen ihr vor, den Bürgern keine grosse politische „Vision“ zu bieten und sich zu wenig um die „Zukunftsfähigkeit“ des Landes zu kümmern. Man muss als Antwort auf solche hochgestochenen Begriffe nicht unbedingt das berühmte Diktum von Helmut Schmidt zitieren, der ironisch meinte, wer Visionen habe, der solle zum Arzt gehen. Doch fassbare, im Wahlkampf einsetzbare Vorstellungen, was denn mit solchen „Visionen“ und mit „Zukunftsfähigkeit“ konkret gemeint sein könnte, sind von den Merkel-Kritikern aus der politischen Mitte auch nicht zu vernehmen.
Natürlich hat das Klagen mancher Kommentatoren über einen angeblich langweiligen Wahlkampf auch mit dem in Umfragen diagnostizierten Vorsprung von Angela Merkel gegenüber ihrem SPD-Herausforderer Martin Schulz zu tun. Wenn für die CDU-Kanzlerin ein Vorsprung von 15 Prozentpunkten ausgerechnet wird, dann wird es für die Medien schwieriger, dem Wahlvolk spannende Geschichten über den Stand des Rennens anzubieten.
Aber ist Merkel schuld an diesem Zustand? Und wäre den deutschen Bürgern vielleicht besser gedient mit einem Spitzenkandidaten vom Zuschnitt des Lügenbarons Trump, der dann völlig unerwartet gewählt wurde? Oder wünschten die Kritiker lieber eine Konstellation wie in diesem Frühjahr in Frankreich, als die Wahl Marine Le Pens zur Präsidentin nicht ausgeschlossen war? Ausserdem: Was soll langweilig sein an einem Wahlkampf, in dem damit zu rechnen ist, dass die rechtsnationale AfD offenbar gute Chancen hat, als drittstärkste Partei in den Bundestag einzuziehen?
Was man später sagen wird
Auch in Deutschland ist keineswegs alles zum Besten bestellt, das behaupten ja auch die Merkel-Wähler nicht. Sie wissen nur, dass heute in ihrem Land vieles besser läuft als in andern Ländern Europas und gewiss in früheren Phasen der deutschen Geschichte. Und fast ebenso sicher ist, dass dieser erfreuliche Zustand nicht unbeschränkt andauern wird. Neue Turbulenzen, Krisen und Konflikte werden früher oder später aufbrechen. Dann wird man zurückblicken auf die Merkel-Jahre und viele werden das denken, was der britische „Economist“ vor 35 Jahren am Ende von Helmut Schmidts Regierungszeit auf der Titelseite schrieb: „It was good while it lasted.“