Lassen sich mit der Hetze gegen Flüchtlinge oder Minarette Stimmen gewinnen, schreibt Roeck in seinem Essay, hetzen „gewissenlose Zyniker des Machtspiels, die kein Wort von dem glauben, was sie dröhnend verkünden“, gegen Flüchtlinge und Minarette. Und: verspricht eine Leugnung des Klimawandels einen Stimmenzuwachs, leugnet man eben den Klimawandel.
Das Essay von Bernd Roeck erscheint in dem eben von Michael Kühnlein herausgegebenen Buch: „konservativ?! Miniaturen aus Kultur, Politik und Wissenschaft“ *).
Was heisst eigentlich „konservativ“? Dieser Frage geht Bernd Roeck nach. Konservativismus sei „weder prinzipiell schlecht noch grundsätzlich gut“.
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Bernd Roeck: Bendicòs Balg: Spielarten des Konservativen
Die Szene in Giuseppe Tomasi de Lampedusas Roman „Il Gattopardo“ spielt am Morgen des 13. Mai 1860. Don Fabrizio, Fürst von Salina, ist in seinem Stadtpalast zu Palermo mit der Morgentoilette beschäftigt, müht sich um sorgfältige Rasur. Im Spiegel bemerkt er seinen Neffen Tancredi Falconeri, der gekommen ist, um sich zu verabschieden. Gerade war Garibaldi auf Sizilien gelandet; Tancredi, obwohl von altem, wenngleich verarmtem Adel, wird sich zu dessen Rothemden gesellen. „Grosse Dinge bahnen sich an“, sagt er. „Da will ich nicht zu Hause bleiben.“ Bestürzt entgegnet Don Fabrizio: Ein Falconeri müsse es mit dem König halten!
Er dürfe sich nicht zusammentun mit jenen Leuten, die Mafiosi seien und Gauner. Doch der Neffe lässt sich nicht beirren. „Wenn wir nicht dabei sind, errichten dir jene die Republik. Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, muss sich alles ändern. Habe ich mich klar ausgedrückt?“ Er umarmt den Onkel „ein wenig bewegt“ und bricht auf zum Zug der Tausend. Dem bourbonischen Regime werden nur noch ein paar Monate beschieden sein.
„Se vogliamo che tutto rimanga come è, bisogna che tutto cambi“, einer der berühmtesten Sätze der italienischen Literaturgeschichte, bezeichnet eine der Möglichkeiten, konservativ zu sein.
Gegen die Zeit
Tancredi arrangiert sich mit den Verhältnissen, die Bürger, Beamte und Geschäftemacher nach oben tragen werden. Gegen alle Standesehre heiratet er die schöne Tochter des Bürgermeisters von Donnafugata, dem Sommersitz der Salina, und mit ihr ein nicht unbeträchtliches Vermögen. Ein ruhiges Dasein als Landlord ist ihm auch im neuen Italien, dem er als Senator dienen wird, sicher. Er ist ein sizilianischer Bruder des Pastors Lorenzen in Fontanes „Stechlin“:
„Lieber mit dem Alten, soweit es irgend geht, und mit dem Neuen nur, soweit es muss […].“
Don Fabrizio indes lebt sein Leben stoisch weiter, gegen die Zeit. Rosenkränze beginnen und beschliessen den Tag, der mit Jagd und zeremoniellen Mahlzeiten dahingeht und von Festen und gelegentlichen Besuchen bei Mätressen durchbrochen wird. Anders als sein Neffe lehnt der Fürst es ab, sich von Cavours Staat vereinnahmen zu lassen. Dabei weiss er, dass das alte Sizilien und dessen herrschende Klasse dem Untergang geweiht sind. Er betrachtet sein Land aus der Distanz, von der Höhe seines Palastes aus. Im Morgenlicht erscheinen alle Dinge, verwandelt durch eine starke Sonne, schwerelos. Das Meer zeigt sich als Fleck aus reiner Farbe, Palermo mit seinem Dreck und seinem Elend liegt im Dunst. Die historische Realität Siziliens, wie sie die grosse Masse der Menschen damals erlebte und erlitt, verliert sich in der Schönheit des Panoramas.
Nichts bewahren, sondern umstürzen
Der Historiker Klaus Epstein unterschied in seinem Klassiker „The Genesis of German Conservativism“ drei Formen konservativen Verhaltens: Verteidiger des Status quo und Reaktionäre – der Fürst von Salina trägt Züge des einen wie des anderen Typs –, schliesslich Reformkonservative.
Das 20. Jahrhundert brachte eine weitere Variante hervor: den „revolutionären Konservativen“. Ihn repräsentieren antidemokratische Schwadroneure wie Arthur Moeller van den Bruck, Ernst Jünger oder jüngst Steve Bannon, zornige Fromme wie Khomeini, schliesslich die Massenmörder Mussolini und Hitler. Sie wollen nicht bewahren, sondern umstürzen; den Parlamentarismus zerstören, Ketzer ausmerzen, alte Eliten entmachten oder eliminieren. Ihr Erfolg hat zur Voraussetzung, dass sie intolerant sind und skrupellos. Die mächtigsten Bollwerke gegen ihre Attacken sind Institutionen und das Recht, das sie schützen.
Der Königsweg in die Zukunft führt in die Vergangenheit
Was uns in den gegenwärtigen politischen Szenerien Deutschlands, Polens, Italien, der USA und anderer Länder begegnet, sind demgegenüber wenigstens vorerst blosse „konservative Impulse“. So nennt der britische Soziologe Peter Marris und mit ihm dessen deutscher Kollege Peter Waldmann eine „quasi-anthropologische Grunddisposition“, nämlich die „teils bewusste, teils mehr intuitive Verankerung des Denkens, Fühlens und Handelns in traditionellen Bahnen und Mustern“ – reflexartige Reaktionen auf beschleunigten Wandel, der als Verlust erfahren wird.
Globalisierung und die Zweite Medienrevolution lösen uralte Verhaltensweisen aus. Der konservative Impuls drängt zur Adaption hergebrachter Identitäten, legt Fluchten in die Religion nahe und fordert Widerstand gegen modische Begriffe von politischer Korrektheit. Der Königsweg in die Zukunft soll in die Vergangenheit führen, als die Menschen fromm waren, die Familien intakt und die Nation kräftig, gross und nicht von Fremden verunreinigt.
Konservative von begrenzter Intelligenz
In vielen Demokratien ziehen „terrible simplificateurs“ Gewinn daraus. Einige von ihnen mögen aufrechte Konservative von begrenzter Intelligenz sein, andere gewissenlose Zyniker des Machtspiels, die kein Wort von dem glauben, was sie dröhnend verkünden. Sie propagieren einfache Lösungen, während ihre Gegner noch an der Analyse komplexer Problemlagen tüfteln. Gegen Rationalismus und Abstraktion stellen sie „gesunden Menschenverstand“.
Lassen sich mit der Hetze gegen Flüchtlinge oder Minarette Stimmen gewinnen, hetzen sie gegen Flüchtlinge und Minarette. Versprechen Leugnung des Klimawandels oder Relativierung seiner Folgen Zuwächse, wird eben der Klimawandel in Frage gestellt. Schuld an einer dumpf gefühlten Malaise sollen im Übrigen wie von jeher „die Anderen“ sein.
Was soll „konserviert“ werden?
Migranten und Muslime, Liberale und Linke haben Hexen in der Rolle der Sündenböcke abgelöst. Den Juden, klassischen „Schuldigen“ schon im Mittelalter, scheint der unheilvolle Part erneut zuzuwachsen, und zwar nicht nur in der arabischen Welt, sondern auch im Westen. Beunruhigend ist, dass sich hier mit den altvertrauten Parolen Stimmen gewinnen lassen – und das in Zeiten florierender Wirtschaft.
Konservativismus ist indes weder prinzipiell schlecht noch grundsätzlich gut. Immer ist zu fragen, was eigentlich „konserviert“ werden soll: Ungerechte wirtschaftliche und soziale Verhältnisse? Die Macht alter Männer, der Einfluss einer intransigenten Priesterkaste? Oder reden wir von dem, was Erhard Eppler „Wertkonservativismus“ nannte – die Umwelt schützen, die Erderwärmung stoppen? Vor allem auf ökologischem Feld sieht sich progressive Politik tatsächlich stets auf im Wortsinn konservative Ziele verwiesen.
Nackter Machterhalt als einziges Ziel
Davon, ob es ihr gelingt, sie zu erreichen, hängt die Zukunft des Planeten ab. Reformkonservativismus kann daneben auf die Herstellung von mehr Gerechtigkeit zielen, wie auch immer man den Begriff mit Inhalt füllen mag. Seine Agenda ist, halbwegs komfortable Gesellschaftsordnungen und einigermassen ordentliche politische Systeme zu bewahren. Ein Slogan der Sozialdemokraten Willy Brandts brachte 1972 eine solche Strategie auf den Punkt: „Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen.“
Gelingt eine wirkliche „konservative Revolution“ – wie 1922 in Rom, 1933 in Berlin oder 1979 in Teheran –, sind die Folgen katastrophal. Das „Narrenspiel der Hoffnung“, das Jacob Burckhardt während Frühphasen von Umstürzen beobachtet, währt nicht lange. Den Protagonisten bleibt nackter Machterhalt als einziges, nun mit Unterdrückung und Terror verfolgtes Ziel. Sie tun das weniger deshalb, weil sie „rechts“ wären, sondern weil überhaupt Ideologien oder absolut gesetzte religiöse Doktrinen ihr Handeln leiten. Bald geht es nicht mehr nur um den gewöhnlich eher schlichten Inhalt ihrer Köpfe, sondern um die Köpfe selbst. Hohle Botschaften bemänteln nur noch Angst.
Unbeirrt weitermachen, während alles zerfällt
Dem mit ihnen verglichen harmlosen Don Fabrizio mag man Respekt nicht versagen. Unbeirrt weiterzumachen, während umher alles in Trümmer fällt, hat ja etwas Heroisches. Doch geht die Geschichte über Konservative seines Schlages hinweg. Was bleibt, sind Erinnerungen. Im Palast der Salina hält Bendicò, der Hund des Fürsten, die Stellung, nun einbalsamiert als mottenzerfressene Reliquie eines längst verwehten aristokratischen Sommers. Stets hatte er sich treu und ergeben gezeigt. Er forderte nicht, er kritisierte nicht und erregte keine Furcht. Er glich dem idealen Untertan.
Ein wenig – so sein Schöpfer Tomasi de Lampedusa – ähnelte Bendicò den gleichgültigen Sternen über Palermo, die Don Fabrizio vom Observatorium seines Palastes aus zu beobachten pflegte. Aber selbst der Balg endet kläglich. Die letzten Sätze des „Gattopardo“ erzählen, wie Concetta, des Fürsten älteste Tochter, den Kadaver entsorgen lässt; inzwischen schreibt man Mai 1910. „Während das Gerippe weggetragen wurde, fixierten sie die Glasaugen mit dem demütigen Vorwurf von Dingen, die man wegschmeisst, die man loswerden will.
Wenige Minuten später wurde das, was von Bendicò geblieben war, in eine Ecke des Hofes geworfen, den der Müllmann jeden Tag besuchte. Während des Flugs vom Fenster herab verwandelte sich seine Form für einen Moment. In der Luft, so sah es aus, tanzte ein Vierbeiner mit langen Schnurrhaaren; die rechte Vorderpfote schien zum Fluch erhoben. Dann fand alles Frieden in einem Häuflein fahlen Staubes.“
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* ) Bernd Roeck: Bendicòs Balg: Spielarten des Konservativen. Auszug aus dem von Michael Kühnlein herausgegebenen Buch „konservativ?! Miniaturen aus Kultur, Politik und Wissenschaft“. Berlin: Duncker & Humblot, Oktober 2019).
Bernd Roeck, seit Februar 2019 emeritiert, war zwanzig Jahre lang ordentlicher Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich. Von 2009 bis 2011 war er Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich. Unter anderem sind von ihm erschienen: „Die Suche nach Arkadien“ (2004), „Mörder, Maler und Mäzene: Piero della Francescas ‚Geisselung’“ (2010), „Der Morgen der Welt, Geschichte der Renaissance“ (2018), „Leonardo da Vinci, der Mann der alles wissen wollte“ (2019).
Siehe auch Journal21.ch:
„Finden Sie dieses Lächeln wirklich umwerfend?“
Das ist nicht Leonardo da Vinci
(Die Zwischentitel und Hervorhebungen stammen von Journal21)