Das Reisen hat einen ganz speziellen Zauber. Es gibt Orte von magischer Anziehungskraft, aber auch schon der Weg dorthin beflügelt die Fantasie. Eine Ausstellung mit Plakaten erzählt von alten Sehnsüchten und weckt neue.
Die ersten Plakate der Ausstellung stammen aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Die damalige Bildgestaltung und der grafische Stil wirken auf den heutigen Betrachter zunächst befremdlich, aber unwillkürlich versetzt er sich in die damalige Zeit mit ihrem Zauber der Sehnsuchtsorte. Ohne dass er es recht bemerkt, hat eine Zeitreise in seinem Kopf begonnen. Das ist ein Effekt, auf den die Aussteller setzen. Verstärkt wird er durch den begleitenden Bildband, der im Steidl Verlag erschienen ist.
Kopfreisen rund um die Uhr
Um diesen Effekt voll zur Wirkung kommen zu lassen, haben die Aussteller und der Steidl Verlag mit Felicitas Hoppe eine Autorin engagiert, die auf der literarischen Klaviatur der Beschreibung, der Fiktion und ironischer Überhöhung meisterhaft zu spielen versteht. Immer wieder kommt sie in dem Band mit ihren Texten zu Wort. Am Anfang heisst es: «Wir bieten Ihnen Kopfreisen rund um die Uhr, die Sie niemals vergessen werden!» Weiter: «Geld spielt keine Rolle, denn alles, was Sie bei uns zu sehen bekommen, ist von A–Z nachhaltig und ehrlich erfunden. … Die Reise beginnt im Kopf – wo sonst?»
Dass die Reise im Kopf beginnt, klingt beiläufig, aber diese Feststellung enthält viel mehr. Denn die Sehnsuchtsorte sind zu einem nicht unerheblichen Teil Produkte der Fantasie. So schreibt Felicitas Hoppe über einen der Gestalter dieser Plakate, den Gebrauchsgrafiker und Maler Anton Reckziegel, dass sie für ihn «jahrelang Farben mischte und Pinsel wusch, während er sich lauter Orte ausmalen musste, die er selbst niemals zu Gesicht bekam.» Tatsächlich lebte Reckziegel von 1855 bis 1936, also lange vor Felicitas Hoppe. Aber was sie schreibt, stimmt. Seine einzige Reise unternahm er 1908 nach Norwegen. Dazu Hoppe: «Was nur beweist, dass wir es tatsächlich mit KUNST zu tun haben – mit jener praktischen Einbildungskraft, die eine reale Schnittmenge mit dem Fahrplan der Zukunft bildet.»
In dem Band sind Kurzbiografien einiger Künstler, die die Plakate gestaltet haben, enthalten. Und einige Plakate wirken in ihrer Kraft geradezu genial. So übermitteln sie nicht nur den Zauber der Sehnsuchtsorte, sondern auch die Faszination der damals aufkommenden neuen Verkehrsmittel, also der Schnellzüge und der schnellen Ozeandampfer. Auf vielen Plakaten sind neben den Bildern beziehungsweise grafischen Abbildungen auch Streckenkarten und Fahrpläne eingefügt.
Und natürlich ist Felicitas Hoppe in ihrer schriftstellerischen Fantasie auch mit einem dieser Züge gefahren. Allerdings hatte sie dafür kein Geld und fuhr schwarz. Wenn der Schaffner kam, verschwand sie auf der Toilette. Im Schlafwagen ging das allerdings nicht so einfach: «Fürchte mich vor dem Schlafwagenschaffner», schreibt sie in einem fiktiven Brief an einen fiktiven Freund, um dann gehässig zu bemerken: «Wie kann es sein, dass du nach all den Jahren in unserer gemeinsamen Werkstatt immer noch nicht begriffen hast, was gute Werbung von schlechter Kunst unterscheidet? Kein Wunder, dass du dir keinen Schlafwagen leisten kannst.»
Schwindender Zauber
Der Band ist nach Reisezielen und Transportmitteln gegliedert. Dazwischen finden sich einzelne Kapitel mit Postkarten und Photochromen, die in einem speziellen Druckverfahren hergestellt wurden. Auch diese Abbildungen sind beeindruckend. Gegen Ende des Bandes werden Plakate für Flugreisen seit den 1950er Jahren abgebildet. Da stellt sich der eigentümliche Eindruck ein, dass von diesen Plakaten nicht mehr der Zauber früherer Zeiten ausgeht. Auch Felicitas Hoppe ist das aufgefallen, und in ihrer fantasievoll-ironischen Art schreibt sie: «Welchem Grafiker ist es bis heute jemals gelungen, einen überzeugenden fliegenden Teppich zu zeichnen?»
Das letzte Kapitel ist dem beginnenden «Weltraumtourismus» gewidmet. Darin wirken die Grafiken ausserordentlich schwach. Nichts erinnert mehr an die Wucht der früheren Plakate, die die Betrachter förmlich zu den Sehnsuchtsorten riss.
Überhaupt hat man den Eindruck, dass im Laufe der Jahrzehnte die eigentümliche Verspieltheit, die Exklusivität und der damit verbundene Luxus weitgehend verschwunden sind. So war auch die Mode damals exklusiv: elegante Tenniskleidung, fabelhafte Skianzüge und nicht zu vergessen: das Golfspiel elegant gekleideter Damen mit ihren makellosen Schlägen. Das war eine Klasse für sich. Indem das Reisen zum Konsumgut für alle geworden ist, wurde es mehr und mehr entzaubert. Dagegen kommt auch die Plakatkunst nicht an. Um so verdienstvoller ist es, dass jetzt eine Auswahl aus der «Sammlung des Deutschen Plakatmuseums im Museum Folkwang» und aus der «Dauerleihgabe Klein – Reisen in Luxus» in Essen ausgestellt werden. Und mit dem begleitenden Bildband im Steidl Verlag wird man öfter auf Reisen gehen. Denn wie schrieb noch Felicitas Hoppe? «Die Reise beginnt im Kopf – wo sonst?»
Museum Folkwang, Museumsplatz 1, Essen, bis 14. Juli 2024
Museum Folkwang (Hrsg.): Ferne Länder, ferne Zeiten. Sehnsuchtsfläche Plakat. 248 Seiten, Edition Folkwang / Steidl 2024, 38 Euro
Cover: Roger Broders (1883–1953), Antibes Frankreich, um 1927
Imp. Lucien Serre, Paris, Farblithografie, 106,5 x 76,7 cm