Narziss am Anfang und Narziss am Ende. Der schöne Jüngling, der sich in sein Spiegelbild im Brunnen verliebt, es liebkosen will und ertrinkt – der Mythos, den Ovid in seinen „Metamorphosen“ erzählt, ist eine Konstante der europäischen Kulturgeschichte. Narziss eröffnet mit einer Miniatur aus dem 14. Jahrhundert (Leihgabe der British Library) und mit John Gibsons Marmorskulptur (1838, Leihgabe der Royal Academy of Arts, London) die Ausstellung „Spiegel – der Mensch im Widerschein“.
Mit Narziss endet auch die Schau, nämlich mit Paul Camenischs „Der Schweizer Narziss“: Der junge Mann spiegelt sich selbstgefällig im Spiegel des Badezimmers, dessen Kacheln mit Kriegsgräueln versehen sind. Das Gemälde (Kunstmuseum Basel) entstand 1944. Genügt sich die Schweiz selber? Ignoriert sie, was um sie geschieht? Auch das ist Narziss.
Selbsterkenntnis
Zwischen diesen Polen breitet Kurator Albert Lutz eine faszinierende Spiegel-Welt aus und vereinigt auf zwei Geschossen des Museums prominente Leihgaben aus bedeutenden Museen sowie Objekte aus den hervorragend bestückten hauseigenen Sammlungen. Die Schau ist so breit angelegt, dass sie ganz verschiedene Vorlieben des Publikums befriedigen kann. Zu sehen sind Objekte vom alten Ägypten über die griechische Antike bis zu Beiträgen zum Spiegel-Thema aus Süd- und Mittelamerika, Afrika und Asien, dazu europäische Malerei, Gegenwartskunst sowie Fotografie und erst noch Film. Besonders reizvoll sind auch Videobeiträge: Da ist zu sehen, wie ein Baby nach seinem eigenen Spiegelbild greifen will – und brüsk nach hinten kollert.
Damit, aber auch mit dem Video, das in Gross-Vergrösserung die Spiegelung des Rietberg-Parks in den Augen des Museumspersonals zeigt, weist Albert Lutz ins Zentrum des Ausstellungsthemas: Der Blick in den Spiegel ist auf ganz unterschiedliche Weise ein Akt der Selbsterkenntnis, und im Spiegel erkennen wir die Welt um uns und hinter uns.
Fotografische Selbstbespiegelung
Malt ein Künstler ein Selbstporträt, so hält er stets sein Spiegelbild fest. Ebenso richten die Fotografinnen und Fotografen für ihr Selbstbildnis die Kamera auf den Spiegel. Deutlicher als die meisten Maler setzen sie sich in ihrer eigenen Welt in Szene und machen den Spiegel selber zum Thema: In Annelies Štrbas Foto „Sonjas Geburtstag“ erkennen wir im Hintergrund in einem Spiegel die fotografierende Mutter – ähnlich, wie wir in Jan van Eycks Arnolfini-Hochzeit im runden Spiegel eine Person, vielleicht den Maler selber, entdecken. Marianne Breslauer blickt in ihrem Selbstporträt nicht in den Spiegel, sondern in den Schachtsucher der auf den Spiegel gerichteten Kamera, in deren Objektiv sich, winzig klein, das Bild spiegelt. Auch Cindy Sherman, deren Werke fast durchwegs Selbstporträts sind, thematisiert in einem frühen Werk die fotografische Selbstbespiegelung.
In existenzielle Tiefgründigkeit verweisen manche Spiegel – Totenspiegel zum Beispiel: Wer sich darin sieht, erkennt neben sich einen Totenschädel, oder er entdeckt, wie kleine Figuren des Sensenmannes und allerlei andere Memento-Mori-Objekte sein Konterfei einrahmen, als wolle gesagt sein: Dies hier ist Deine Zukunft.
Geradezu virtuos erscheint das Vorführen der Schluss-Sequenz von Orson Welles’ „The Lady of Shanghai“: Der Ausstellungsdramaturgie ist mit der Verlegung des berühmten Schusswechsels im Spiegellabyrinth in ein im Museum eigens aufgebautes Spiegelkabinett ein Meisterstück gelungen – eine Verdoppelung von Welles‘ Geniestreich. Da weiss man kaum mehr, wie einem geschieht: Im Gegensatz zu den Totenspiegeln ein theatralisch lautes und geradezu krachendes Memento Mori.
Spiegel-Erfahrungen, Spiegel-Visionen
Das Spiegel-Thema hat unendlich viele Facetten – ein eigentliches Kaleidoskop. Facettenreich sind schon die über Video abgespielten Interviews mit verschiedenen Menschen über ihre Spiegel-Erfahrungen. Da finden sich köstliche Aufnahmen eines Knirpses, der sich durchs Spiegelkabinett des Luzerner Gletschergartens tastet.
Ebenso einbezogen in die Schau werden ethnologische Filmaufnahmen über südindische Rituale über Spiegelungen und Göttinnen. Und nachgebaut ist eine Situation in der Wallfahrtskirche Birnau am Bodensee: Das Deckengemälde zeigt einen Gnadenstrom, der sich aus einem Herzen auf einen realen Spiegel ergiesst, der diese Gnade, je nach Lichtverhältnissen und Standort, direkt auf die Gläubigen im Kirchenschiff lenkt.
Manche Belege fürs Spiegel-Thema in der europäischen Malerei fanden Eingang in die Ausstellung. Wie eine Kuriosität wirkt Tintorettos berühmte „Susanna im Bade“ aus dem Kunsthistorischen Museum Wien. Natürlich begegnen wir nicht dem Original, das hätte wohl die Möglichkeiten des Hauses überstiegen, wohl aber der perfekten Kopie, die Anna Jäger 1938 malte. Es fanden aber auch beachtliche Originale den Weg ins Rietberg-Museum – so Werke von Hans von Aachen, Jacques Pajou, Simon Vouet oder Giovanni Segantini.
Kaum entziehen kann man sich dem Pathos der grossformatigen „La Vérité“ (1870) von Jules Lefebvre, einem einst hochberühmten, heute weitgehend vergessenen französischen Salon-Maler: Die nackte Frau mit alabastern weisser Haut vor dunklem Grund reckt ihre Rechte hoch, die einen grell leuchtenden Spiegel hält.
Symbol der Eitelkeit
Zahlreich sind die Beispiele von Spiegeln in indischen Miniaturen, von denen das Museum wahre Schätze besitzt und in denen die Spiegel oft eine kultische Bedeutung gewinnen. Eine kostbare Rarität im Besitz des Museums ist auch jenes Relief aus der Gandhara-Zeit (Pakistan, zweites bis viertes Jahrhundert), das zeigt, wie Maras Töchter mit ihren erotischen Reizen den jungen Buddha verführen. Eine der jungen Frauen blickt in einen Spiegel, der hier – wie in sehr vielen anderen Darstellungen quer durch alle Kulturen – zum Symbol der Eitelkeit wird. Lässt da nicht das Schneewittchen-Märchen mit der „schönsten“ Königin grüssen?
Symbol der Eitelkeit ist der Spiegel, doch er kann auch zum Symbol der Klugheit werden (auf einem Stich von Lucas van Leyden). Der Spiegel steht – in Grafikblättern zu den fünf Sinnen – für den Sehsinn. Er vermag Böses zu bannen und gewinnt magische Dimensionen – bis hin zu den Original-Illustrationen zu Alice im Wunderland oder bis zu Michelangelo Pistolettos „L’Etrusco“ (1976), der Bronze-Figur eines Etruskers, der mit der beschwörend hochgestreckten Grusshand sein eigenes Bild im grossen Wandspiegel berührt. Des Künstlers Streich dabei: Er lässt uns als Betrachterinnen und Betrachter im Spiegel Teil dieses pathetischen Geschehens werden. Der Streich des Kurators: Blicken wir in diesen Spiegel, sehen wir darin, spiegelverkehrt, die auf der gegenüberliegenden Seite projizierte Sequenz aus Cocteaus Film „Orphée“, der auf seine vertrackte Weise mit mehrfachen Spiegelungen spielt.
Ägyptische Spiegel, antike Spiegel, eine spiegelnde Obsidian-Platte aus Mexiko, mit Türkis verzierte Rückenspiegel aus Jucatan, Schamanenspiegel, Spiegel aus Tibet, aus Java, aus China, dazu erst noch Spiegel-Darstellungen aus der modernen Kunst (Léger, Lichtenstein, Anish Kapoor, Gerhard Richter, Bill Viola): Die Vielfalt scheint unendlich. Wir werden hineingezogen in den Strudel einer Kulturgeschichte des Spiegels. Manch ein Teilaspekt verdient dabei eine ausführliche Beschäftigung. Dazu leistet der umfangreiche Katalog, an dem viele Fachleute mitwirkten, ausgezeichnete Dienste.
Museum Rietberg Zürich. Bis 22. September. Zahlreiche Veranstaltungen.