Jede Hausfrau weiss: Sparen ist gut. Nicht alles ausgeben, Rücklagen bilden für Notfälle, fürs Alter, für die Zukunft. Und erst noch Zinsen bekommen, eine anständige inflationsbereinigte Risikoprämie von 3 Prozent fürs Verleihen, wenn sie auf der sicheren Seite sein will. So war es, als in der Wirtschaft die Schwerkraft noch nicht aufgehoben war.
Schlussfolgerung eins
Wer heutzutage auf der sicheren Seite sein will, zahlt dafür. Die Renditen für europäische Staatsanleihen bis tief in den Süden hinein liegen auf dem tiefsten Niveau seit Existenz entsprechender Statistiken. Wer dem deutschen Staat für drei Jahre Geld leiht, «bekommt» dafür einen Negativzins, er verliert damit. Absurd, aber Realität.
Nun könnte man meinen, dass tiefe, sogar zu tiefe Zinsen immer noch besser seien als hohe, zu hohe. Denn spätestens ein zweistelliges Zinsniveau hemme doch Investitionen und befördere die Inflation.
Das stimmt nicht. Wenn man die Zeitetappen nimmt, in denen der Leitzins des FED, also der US-Notenbank, zweistellig war und das mit der jeweiligen Konjunkturlage korreliert, stellt man fest, dass die Wirtschaft brummte oder höchstens unter einer leichten, vorübergehenden Rezession litt. Also sind höhere Zinsen besser als niedrigere, negative Zinsen sind sogar ein Widerspruch in sich selbst.
Schlussfolgerung zwei
Im Horrorkabinett von wirtschaftlichen Zuständen unterscheidet man zwischen Rezession und Depression. Rezession ist Wirtschaftsabschwung, also das Bruttoinlandprodukt eines Staates sinkt während mindestens zwei aufeinanderfolgenden Quartalen – oder wächst zumindest nicht. Seit der Finanzkrise eins, die 2007 begann, befinden sich die meisten Euro-Staaten immer wieder in dieser Situation.
Dauert dieser Zustand ungewöhnlich lange an, spricht man von einer Depression. Während Rezessionen offensichtlich eine Begleiterscheinung des kapitalistischen Wirtschaftssystems sind, bedeutet eine Depression eine «abnorme Liquidation» vieler Dinge, um Schumpeter zu zitieren, falls den noch jemand kennt. Kommt noch eine Liquiditätsschwemme hinzu, entwickelt sich in schöner Regelmässigkeit ein Minsky-Moment. Also das Wirtschaftssystem als Ganzes strebt nicht einem Gleichgewicht, sozusagen einer Ruhelage nach Ausreissern nach oben oder unten zu, sondern es kracht.
Aber Namen wie Schumpeter, Minsky, Popper, Menger, von Mises, von Hayek oder gar Marx, geschweige denn den Inhalt ihrer wirtschaftstheoretischen Analysen zum Thema Grenznutzen, kennt kaum einer der Heerscharen von Absolventen von Kaderschmieden wie HSG & Co. Deren Köpfe rauchen beim Versuch, die Black-Scholes-Formel und ähnliche algorithmische Alchemie zu verstehen. Obwohl Myron Scholes mit dem Hedge Fund LTCM vor der Jahrtausendwende mit dem Verlust von 4,6 Milliarden Dollar für die erste Fast-Kernschmelze des internationalen Finanzsystems sorgte.
Schlussfolgerung drei
Prozentangaben sind eine teuflische Sache. Vor zwei Jahren stellte ich Produkte im Wert von 100 her. Letztes Jahr noch von 50. Dieses Jahr habe ich meine Produktivität aber um sagenhafte 10 Prozent gesteigert. Grossartig, gute Nachricht, der Aufschwung ist da. In Wirklichkeit ist das reine Augenwischerei, denn tatsächlich liegt mein Ausstoss immer noch um 45 Einheiten unter dem Ausgangswert.
Das gleiche Prinzip wird bei den überschaubaren Triumphmeldungen in der Euro-Zone verwendet. Spanien steigert das Bruttoinlandprodukt, super Sache, endlich geht’s aufwärts. Die Wirklichkeit sieht natürlich anders aus. Setzt man das BIP am Anfang der Finanzkrise eins, also im vierten Quartal 2007, auf 100, dann steht Spanien heute bei 94,2, sein BIP liegt um rund 6 Prozent niedriger als vor 7 Jahren. Italiens Wirtschaft ist in diesem Zeitraum sogar um knapp 9 Prozent geschrumpft, für die gesamte Euro-Zone liegt der aktuelle Wert bei 98,1.
Das kann man wohlwollend höchstens mit dem Begriff «Flatlining» beschreiben; in der Medizin meint das den Zustand des Hirntods, wenn das Enzephalogramm keine messbaren Aktivitäten, sondern eine flache Linie angibt. Das trifft in der Euro-Zone sowohl auf den Zustand der Wirtschaft wie der Wirtschaftspolitiker zu.
Schlussfolgerung vier
Dass in der europäischen Politik bereits das gelegentliche Einhalten des Maastricht-Kriteriums, keine staatliche Neuverschuldung höher als 3 Prozent des BIP, als grossartiger Erfolg verkauft wird, während sich die durchschnittliche Verschuldung der Euro-Länder 100 Prozent nähert, ist nicht mehr und nicht weniger als Ausdruck einer allgemeinen Verluderung.
Viel gefährlicher ist, dass bereits Jahre anhaltende Nullzins-Politik der Notenbank EZB, gigantische Ausweitung der Geldmenge und das Aufkaufen oder Garantieren der Werthaltigkeit von Staatsschuldpapieren keinerlei Wirtschaftsaufschwung bewirkt. Geradezu absurd ist, dass eine Anhebung des Leitzinses auf gesunde mindestens 3 Prozent bewirken würde, dass die meisten europäischen Staaten sofort Bankrott erklären müssten. Und es gibt kein passendes Adjektiv, um die Idiotie der Forderung zu beschreiben, dass Euro-Europa nur durch eine strikte Austeritätspolitik – sparen, sparen, sparen – aus dieser Nummer herauskommen könnte. Denn wir haben offensichtlich ein Nachfrage-, kein Angebotsproblem. Und ein Schuldenproblem, dass nur mit tiefen Schnitten gelöst werden kann.
Schlussfolgerung fünf
Das Trio infernale, bis über die Ohren verschuldete Staaten, mit künstlicher Liquidität am Leben erhaltene Zombie-Banken und eine durch die Festlegung des Leitzinses auf faktisch Null die Ware Geld gratis machende Notenbank, haben nichts anderes als ein Schneeballsystem, ein Ponzi-Schema in Bewegung gesetzt.
Damit wurde finanzpolitisches Neuland betreten. Nach dem Prinzip: Wir wissen zwar alle nicht, wieso es nicht schon längst gekracht hat, aber solange es das nicht tut, gibt es doch keinen Grund, nicht fröhlich weiterzumachen. Und nach der Vorgabe: Da sowieso niemand weiss, wie wir da wieder rauskommen, müssen wir weitermachen. Eine Anhebung des Leitzinses würde flächendeckend Staatsbankrotte auslösen. Eine Abschöpfung des im Multimilliardenpack hergestellten Neugeldes würde flächendeckend Staatsbankrotte auslösen. Das Eingeständnis durch einen kräftigen Schuldenschnitt, dass ein guter Prozentsatz der Staatsschulden und der Sozialversprechen in Form von Renten Luftnummern sind, würde mindestens Staatsbankrotte auslösen.
Also machen wir doch à la Frankreich weiter. Wenn selbst ein Minister darauf hinweist, dass angesichts von wirtschaftlichem Flatlining und einer Depression die Fortsetzung eines Sparkurses und das Unterlassen massiver Eingriffe in die Schuldenwirtschaft das Elend höchstens verlängert, dann passiert endlich was. Genau: Der Minister und alle Kollegen, die eine gewisse Sympathie zu diesen Auffassungen äusserten, werden entlassen. So kann man Probleme auch zu lösen versuchen.