Bis zum Oktober 2004 wusste Victoria Donda nicht, wer sie wirklich war. Doch dann entdeckte sie mit Hilfe der „Grossmütter der Plaza de Mayo“, die seit Jahrzehnten unermüdlich nach dem Verbleib ihrer unter der Herrschaft der Generäle (1976 – 1983) verschwundenen Enkel forschen, ihre wahre Identität. Ihre Mutter, María Hilda Pérez, hatte sie im August 1977 in der „Mechanikschule“ der Marine (Esma), einem der berüchtigten Folterzentren der Militärschergen in Buenos Aires, zur Welt gebracht. Sogleich wurde sie der Mutter weggenommen und von einer Familie aus dem Umfeld der Junta adoptiert. Als sie mit 27 endlich die Gewissheit hatte, die Tochter von María Hilda Pérez und José María Donda zu sein, legte sie mit dem früheren Leben auch den alten Namen ab.
Sie wollte nicht mehr - wie in ihrem früheren Leben - Analía heissen, sondern Victoria. „Mi nombre es Victoria – ich heisse Victoria“ ist auch der Titel des Buches (auf deutsch bei Knaur erschienen) , in dem sie ihr Schicksal beschreibt. Heute sitzt Victoria Donda als Abgeordnete im nationalen Parlament und hat an einem Gesetz mitgearbeitet, das zwangsweise Gentests bei Personen erlaubt, bei denen angenommen wird, dass sie von „Desaparecidos“ (Verschwundenen) abstammen.
Keine Spur von Reue
Nach Schätzungen der „Grossmütter der Plaza de Mayo“ sind während der Militärdiktatur rund 500 Babys und Kleinkinder verschleppt und verschenkt worden. Etwa 100 von ihnen haben ihre Familie wiedergefunden, die meisten von ihnen als Erwachsene. Jetzt wird der systematische Raub von Kindern erstmals strafrechtlich verfolgt. Auf der Anklagebank sitzen die Ex-Juntachefs Jorge Rafael Videla (85) und Reynaldo Bignone (83) fünf weitere ehemalige ranghohe Militärs sowie ein Arzt, der in der „Mechanikschule“ Geburtshilfe leistete. Die Justiz wirft ihnen vor, 34 Kindern ihren inhaftierten Müttern weggenommen, sie versteckt und ihre Identität verschleiert zu haben.
Videla, der bereits im vergangenen Jahr für den Tod von 31 politischen Gefangenen zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, zeigte sich unbeeindruckt von den Anschuldigungen. Als die Anklageschrift verlesen wurde, nickte er vorübergehend ein. Schon im ersten Prozess war bei ihm keine Spur von Reue zu erkennen gewesen. „Wir haben keinen schmutzigen Krieg geführt, sondern einen gerechten“, sagte er damals in seinem Schlussplädoyer. „Die Feinde von gestern regieren heute das Land.“ Videla meinte damit in erster Linie Staatschefin Cristina Fernández de Kirchner und ihren 2010 verstorbenen Mann und Vorgänger Néstor Kirchner. Beide haben sich vehement dafür eingesetzt, dass Argentinien die Verbrechen der Militärdiktatur doch noch ernsthaft aufzuarbeiten begann.
In Argentinien ein Schlussstrich, der keiner war…
Lange Zeit hatte es so ausgesehen, als kämen die Generäle und ihre Folterknechte ungeschoren davon. Zwar wurden 1985, zwei Jahre nach der Rückkehr zur Demokratie, Videla und zwei weitere Armeeführer ins Gefängnis gesteckt. Nach einigen Unruhen in den Kasernen aber erliess das Parlament zwei Amnestiegesetze, mit denen ein Schlussstrich unter die Ermittlungen gegen die Militärs gezogen werden sollte. 1990 kamen die inhaftierten Offiziere bereits wieder auf freien Fuss, begnadigt vom damaligen Präsidenten Carlos Menem. Der pragmatische Neoperonist war selbst Gefangener der Militärs gewesen und glaubte offenbar, die von ihm angestrebte innenpolitische Stabilität mit einer grossen Versöhnungsgeste absichern zu müssen.
Für die Mütter und die Grossmütter der Plaza de Mayo war die Amnestie ein Schlag ins Gesicht. Doch sie gaben nicht auf – und fanden schliesslich in Néstor Kirchner einen mächtigen Verbündeten. Der linksliberale Präsident, der in der Menschenrechtspolitik ein klares Signal setzen wollte, liess im Sommer 2003 die Amnestiegesetze annullieren und machte so den Weg frei für die überfällige juristische Aufarbeitung der Militärdiktatur, der nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen rund 30 000 Menschen zum Opfer gefallen sind.
… in Brasilien dauerhafte Amnestie
Auch wenn die Schatten der Vergangenheit je länger, desto schwerer zu erhellen sind und nach so langer Zeit bei weitem nicht mehr alle Täter zur Rechenschaft gezogen werden können: Argentinien darf für sich in Anspruch nehmen, konsequenter als andere lateinamerikanische Staaten gegen die Gräueltaten der Generäle und ihrer Folterknechte vorzugehen. Im Nachbarland Uruguay fand ein Referendum zur Annullierung eines vergleichbaren Amnestiegesetzes nicht die erforderliche Mehrheit. Und in Brasilien lehnte der oberste Gerichtshof im vergangenen Frühling eine Revision des Gesetzes ab, das Verantwortlichen aus der Zeit der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 Straffreiheit garantiert. Jedes Volk regle seine Probleme gemäss der eigenen Kultur, begründete Gerichtspräsident Cezar Peluso das Verdikt.
Eine Sonderkommission untersuchte elf Jahre das Schicksal von etwa 400 Oppositionellen, die ermordet wurden oder spurlos verschwanden. Ihr ausführlicher Bericht verärgerte die Militärs, blieb aber für die Täter ohne Folgen. Anders als Argentinien – und auch Chile - hat Brasilien niemanden aus der Zeit der Diktatur für Mord oder die weit verbreitete Folter von Dissidenten verurteilt. Offenbar herrscht die Ansicht vor, Land und Volk sei am besten gedient, wenn der Mantel des Vergessens und Verdrängens über die Jahre der Repression und des Staatsterrors gelegt werde. Oder wie Gerichtspräsident Peluso es laut einheimischen Medienberichten formulierte: „Brasilien hat den Weg der Eintracht gewählt.“