Der Sozialstaat kannte schon Zeiten eines höheren Ansehens. Mittlerweile sieht er sich sowohl im Grundsatz als auch durch eine fleissig recherchierte Missbrauchspraxis angezweifelt. Das wird sich im Vorfeld der eidgenössischen Volksabstimmung über die SP-Initiative vom 28. November noch akzentuieren. Die semantische Rauflust in den ersten Vorschauen der Zeitungen bietet einen Vorgeschmack. Der „Steuervogt“ ist schon mal aus der Requisitenkammer der Einschüchterungsfiguren geholt und in Stellung gebracht worden. „Tatsache ist“, lesen wir in der NZZ, „dass der Steuervogt den Grossverdienern schon heute kräftig in die Taschen greift.“
Es ist von weitem absehbar, welche „Tatsachen“ noch hinzu kommen werden. Allen voran das erbärmliche Motiv der Initianten: Neid, Missgunst…! Seit ein Mainzer Soziologe den Neid als „Urgeschichte des Bösen“ beschrieben hat, ist dieses Keulen-Argument in aller Hände, obgleich es inzwischen ziemlich stumpf geworden sein müsste. Die Umverteilungs-Befürworter werden es trotzdem schwer haben, eine unschuldige Regung von Gerechtigkeitsempfinden vor dem pauschalen Neidverdacht zu salvieren.
Nun soll es hier nicht darum gehen, alle Missgunst -- den Spiess kehrend -- als politisch produktiven Faktor zu rehabilitieren. Es geht zunächst einfach mal darum, durch das begriffliche Umgelände der steuervögtischen Hochburgen zu wandern und den einen und andern Blick über diese hinweg zu wagen. Man kann sich in der direktdemokratischen Auseinandersetzung nicht in jeder Frage eine maximale Leidenschaftlichkeit wünschen.
Dass die Menschen sich im allgemeinen von ihren Interessen leiten lassen, darf vermutet werden. Der Kleinverdiener ruft nach dem Sozialstaat, der Grossverdiener lamentiert über die grassierende Umverteilung. Bleibt noch ein bisschen Spielraum im mittleren Sektor, dem mittelständischen; dort campiert man sozusagen naturgemäss nicht auf der einen oder andern Position, sondern optiert für ein Drittes, das sich „Augenmass“ nennen mag.
Ausgleich kann auch dem Eigeninteresse dienen
Ideologische Verknotungen gibt’s hier wie dort. Idealistische Massgaben sind gewöhnlich von marginaler Bedeutung. Und dennoch: Eigeninteresse m u s s nicht so kurz greifen, wie die Verallgemeinerung es suggeriert. Auch Privilegierte können den Ausgleich qua steuerliche Progression gutheissen -- und zwar nicht selbstvergessen, sondern als in ihrem Interesse liegend.
In meinen jungen Jahren kannte ich Unternehmer verschiedener Branchen, die in später Abendgesellschaft wiederholt beteuerten, dass sie stolz seien auf ihre persönliche Steuerkraft und auf jene ihrer Firma ebenso. In den meisten Fällen schienen diese Äusserungen glaubwürdig und keineswegs prahlerisch. Der Maschinenindustrielle, Möbelfabrikant oder Mostereibesitzer heischte gewiss ein wenig Respekt für seine Wirtschaftsleistung, doch er reklamierte ihn mit Blick auf seinen Beitrag an die Allgemeinheit. Die Herren hätten auch mit Umsatzziffern und Cash flows aufwarten können. Nein, sie redeten von ihrer Genugtuung, grösster oder zweitgrösster Steuerzahler der Gemeinde zu sein.
Ich will nicht behaupten, der so geartete Unternehmerstolz sei ausgestorben. Ich kenne nur keinen Exponenten der Wirtschaft mehr, der sich so vernehmen lässt. Die heutzutags von sich hören machen, sind mehr oder weniger bonifizierte Manager oder Funktionäre der Wirtschaftverbände, die eine andere Sprache reden, die verschwommene der „Rahmenbedingungen“. Die Statur des selbstbewussten Unternehmers findet sich am ehesten noch im Bereich der kleineren und mittelgrossen Betriebe. Und wenn einer von ihnen heraustritt und der KMU-Interessenpolitik Genüge tun will, kommt seine Rede über die Interventions- und Regelungsdichte hinaus noch schnell auch auf die Steuer- und Abgabenlast. Motto: „Leistung muss sich lohnen“!
Die Verbindung von unternehmerischem Geist und Bürgertugend macht sich jedenfalls rar. Die wirtschaftenden Subjekte sehen sich zunehmend in einer Frontstellung zu den politisierenden, die notwendigerweise Kompromisse schliessen.
Behörden, die mit sich reden lassen
Und die politischen lassen sich jagen. Unter dem Titel „Standortmarketing“ locken sie Unternehmen oder auch nur deren Holding-Verwalter mit steuerlichen und anderen „Fazilitäten“ in ihre Gemarkungen. Die Konkurrenz um die grösstmögliche Ansiedlungs-Attraktion ist eine globale; sie spart keinen Kanton und keine Gemeinde aus. Die Behörden lassen mit sich reden, ihre Elastizität ist systemgewollt, Element des föderalistischen Wettbewerbs.
Wieviel Eifer in diesem Wettbewerb am Werk ist, veranschaulicht die serielle Abschaffung der Erbschaftssteuer oder -- auf administrativer Ebene -- die schonsame Besteuerung begüterter Ausländer. Die Kantone „liberalisierten“ gewissermassen um die Wette. Das Risiko eines Nullsummenspiels hielt sie nicht zurück. Niedrigere Körperschaftssteuern bewirkten à la longue, so prophezeien sie, höhere Steuererträge, denn sie begünstigten die Investitionstätigkeit, schüfen folglich zusätzliche Arbeitsplätze und gesteigerte Renditen usw., usf.
Aus dem Dogma wird Gewissheit
Es gibt kaum mehr bürgerliche Politiker und Politikerinnen, welche dieser Zauberformel misstrauen. Nach den Reagan- und Thatcher-Experimenten sahen sich die Befürworter einer besonders stringent umgesetzten liberalen Theorie auch noch empirisch bestärkt. Und unter dem mächtigen Eindruck des Planwirtschafts-Kollapses war den keineswegs mehr so einsamen Rufern -- Professoren, Journalisten und Denkfabrikanten -- schwer zu widerreden. Ein Dogma war auf dem kürzesten Weg zur Gewissheit, rüttelte am Nachkriegs-Glauben der sozialen Marktwirtschaft, erschütterte den europaweit etablierten sozialdemokratischen Konsensus. Die Staatsquote rückte ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit und mit ihr die Kritik an den Steuerhöchstsätzen, an der Progression fast schon grundsätzlich. Nichts so verschrieen wie der „Etatismus“! Die Kritiker des Wohlfahrtsstaates kannten bald keine Scham mehr und wollten ihre Desolidarisierungs-Parolen auch noch als besonders couragiert beklatscht haben. Sie sehen sich noch heute als von der Political Correctness verfemt, obwohl ihre Rede inzwischen an jedem Stammtisch zu haben ist.
Der Stimmungswandel hatte insoweit sein Gutes und Fälliges, als das Kapital sich inzwischen unumschränkte Bewegungsfreiheit „erglobalisiert“ hatte. Es floss im Kostengefälle, dorthin also, wo die Löhne tief, die Steuern niedrig waren. Die Politik brauchte gar keine neue, theoriegestützte Überzeugung, bedurfte nicht der Anbetung von Gelehrten wie Friedrich A. Hayek oder Milton Friedman, musste keiner Doktrin nachgeben. Nur dem Druck der Finanzwirtschaft. Die Politik „genoss“ die „Handlungsfreiheit“ einer (zu neuem Realismus) erpressten.
Nun macht sich der neue Realismus also an den Begriffen von Sozialstaat und Steuergerechtigkeit zu schaffen -- an labilen Grössen, beeinflussbar nicht bloss durch Erwartungen von Wählermassen, sondern mehr noch vom virtuell verfügbaren Steuersubstrat. Da reicht schon die Drohung von Abwanderungen, um die Progression, die Vorstellung der Zumutbarkeit steigender Steuerbelastung in einem andern Licht erscheinen zu lassen.
In einem Staat wie dem unsrigen, der seine Ausgestaltung in so hohem Masse den Bürgern überantwortet, sollte der bürgerliche Verhältnissinn in ebensolchem Masse kultiviert bleiben. Und das heisst: dass der Diskurs über das politisch Erforderliche den Gesichtspunkt des Zusammenhalts und somit des Ausgleichs dem Eigennutz voranstellt. In der Bestimmung des Zumutbaren ist den wirtschaftlich Starken eine gewisse Noblesse und Generosität abverlangt und den Schwächeren eine gewisse Sorgsamkeit und Zurückhaltung um des Ganzen willen. Unsere Willensnation hat so lange Bestand, als deren Bürger über ihre Nasenspitzen hinausblicken wollen: über ihre Klassenegoismen und über ihren sprachlich-kulturellen Eigensinn. Zu einem tragfähigen Gemeinsinn finden sich zusammen, die im Ringen um Mehrheiten auch gute Sieger und Verlierer sein können.
Jammern hier - denunzieren dort
Daher ist es nicht gleichgültig, wenn reiche Leute, Meritokraten oder Geldadlige, über ihre Steuerlast nur noch zu jammern wissen und ihren Tribut als „Enteignung“ denunzieren, wie es ebenso bedenklich ist, wenn die pauvere Gegenseite in den Mottenkisten des Ressentiments wühlt und Eigentum als „Diebstahl“ verunglimpft. Vulgaritäten der einen oder andern Sorte sind Absagen an den Geist der Kooperation und dienen einzig einer unfruchtbaren, wenn nicht selbstbeschädigenden Konfrontation. Was die Grossbanken 08/09 dem sprachlosen Publikum vorgeführt haben, stellte den gesellschaftlichen Friedensvertrag bereits auf eine selten harte Probe; es braucht keine weiteren „Vorbereitungshandlungen“ für eine veritable Spaltung, für einen Totalverlust des Vertrauens in unsere Institutionen und deren Repräsentanten -- mit all den unkontrollierbaren Folgen.
Man soll die bisher geübte, staunenswerte Duldsamkeit nicht mit Verständnis verwechseln. Die Leute haben nicht das geringste Verständnis für Managerlöhne, die das Hundert- bis Fünfhundertfache der Mindestlöhne ausmachen, wenn sie gleichzeitig in ihrer Zeitung lesen müssen, dass jeder Dritte nicht imstande ist, ohne staatliche Zuschüsse für seine Krankenkassenprämie aufzukommen.
Die Vorstellung, dass die Kluft zwischen Begüterten und Bedürftigen sich erweitert und vertieft, entspringt keiner kollektiven Verarmungsphobie; sie ist statistisch ausmessbar und spricht nicht gerade für eine staatliche „Ausplünderung“ der Reichen…
Tony Judt, der bedeutende, auf Europa spezialisierte, in New York lehrende Historiker, der in diesem Sommer einer unheilbaren Nervenkrankheit erlag, fasst das Problem allgemein und lakonisch: „Wir haben das politische Denken verlernt“, so zu lesen in seinem Buch „Das vergessene 20. Jahrhundert“. Wir setzten für die kollektiven Bestrebungen ausschliesslich ökonomische Begriffe, „als wären es nicht bloss Instrumente für bestimmte soziale oder politische Zwecke, sondern notwendige und hinreichende Ziele an sich.“ Im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts sei man dazu übergegangen, so registriert Judt den Gesinnungswechsel, den wir alle erlebt und womöglich mitgetragen haben, den Staat nicht mehr als vorrangigen Anbieter selbstverständlicher Dienstleistungen zu sehen, „sondern als Hort ökonomischer Inkompetenz und sozialer Intervention…“.
In den weiten Kreisen derjenigen, die in der Gewissheit leben, die staatlichen Ausgleichsleistungen niemals beanspruchen, wohl aber finanzieren zu müssen, hat der Begriff „Sozialstaat“ einen schalen, wenn nicht schon üblen Beigeschmack bekommen. Wenn wir das politische Denken aufgegeben haben, zumal es unvermeidlich moralische Komponenten mit einschliesst, ist dieser Dégout schon beinah’ folgerichtig.
Wie müsste der Staat denn nun beschaffen sein, wenn seine Sozialpolitik sich am Richtmass der Menschenwürde orientieren wollte? Es müsste ein „starker Staat“ sein, ist die gängige Antwort. Im „starken Staat“ schwingt eine Nähe zum autoritären Staat mit, und den rechtsbürgerlichen Fraktionen ist an dieser Nähe schon gelegen und somit an der rechtzeitigen Warnung vor einem drohlichen Freiheits-Verlust. Für sie bleiben -- von aller sinnfälligen Praxis der Vermittlung unberührt -- Freiheit und Gleichheit unversöhnlich.
In seinem Essay „Bürgertugend und Willensnation -- Über den Gemeinsinn und die Schweiz“ lotet der Zürcher Philosophie-Professor Georg Kohler die Begriffe aus, auf welche sich unser Staats- und Rechtsempfinden abstützt. Kohler räumt ein, „dass das Mindestmass an Chancengleichheit, auf das sich auch liberale Gesellschaften verpflichtet haben, ohne staatliche Eingriffe und Umverteilungs-Institutionen nicht zu haben ist.“ Ohne solche staatliche Vorleistungen wäre an die eminent politische Kompetenz der „Besonnenheit“, wie sie Kohler als Resistenz gegen den Alarmismus und die „Übertreibungslogik“ des zeitgenössischen Medienbetriebs postuliert, im Ernst nicht zu denken.
Nur der Staat kann den Konsens herbeiführen
Der Staat muss tun, was Gesellschaft und Wirtschaft aus eigener Kraft nicht leisten. Nur er kann, um Judt noch einmal zu zitieren, seinen Bürgern die Bedingungen für ein gutes und erfülltes Leben schaffen -- „innerer Frieden, Solidarität mit den Benachteiligten, Ausbau der Infrastruktur, kulturelle Einrichtungen, medizinische Versorgung, Bildungseinrichtungen und dergleichen mehr. Vor allem aber kann n u r der Staat einen Konsens herbeiführen, welche Dinge Sonderwünsche (…) und was Grundbedürfnisse sind…“ Und natürlich meinte Judt und meinen wir den demokratischen Rechtsstaat, der im Bewusstsein der beschränkten Ressourcen und zum Schutze der bürgerlichen Freiheitsrechte sparsam legiferiert.
Vorsorge ist der Nachsorge vorzuziehen
Dass wir uns recht verstehen: Ich denke nicht im entferntesten daran, dass der Staat alle Unterschiede austarieren solle. Und führe in meiner „Modell-Rechnung“ keine unverrückbare Budgetposition für das Soziale. Weder den deutschen noch den französischen, noch unseren schweizerischen Transferleistungen eignet eine Mustergültigkeit. Man soll mit dem Erreichten nie ganz zufrieden sein, soll es korrigieren, womöglich auch nach unten -- wo immer die „Steuerhölle“ droht! Vor allem wäre der Sozialpolitik eine präventive, sozusagen investitive Ausrichtung zu wünschen. Vorsorgliche Ertüchtigung ist der nachsorgenden Sozialhilfe in jedem Fall vorzuziehen (was anfänglich allerdings Mehrkosten zur Folge haben kann).
Armut ist ein Zustand von Abhängigkeit, der in den meisten Fällen mit Bildungsdefiziten zu tun hat. Alle staatliche Vorsorge- und Fürsorgepolitik sollte darauf angelegt sein, den Menschen frühzeitig aus ihrer Unselbständigkeit herauszuhelfen und sie zu integrieren. Das gilt für eingeborene Unterschichtler ebenso wie für kulturfremde Immigranten. Sie alle sollten wissen, dass öffentliche Hilfe an eine Leistungserwartung gebunden ist und dass die ökonomische und kulturelle Inklusion b e i d e r Seiten Z i e l sein muss.
Jürg Tobler war in den frühen siebziger Jahren Inlandchef des Fernsehens, danach Chefredaktor führender Regionalzeitungen (Luzern und St. Gallen).
(Und zum Schluss ein paar Fakten zum Thema Spitzensteuersatz)
Die „Zeit“ präsentierte unlängst mit Blick auf die USA und Deutschland eine kleine Geschichte des Spitzensteuersatzes. In den zwanziger Jahren und insbesondere nach der Grossen Depression lagen Spitzensteuersätze hier und dort zwischen 60 und 79 Prozent des Einkommens. Während des Zweiten Weltkriegs erreichte der Satz unter Roosevelt zeitweilig gar 94 Prozent -- damals ging freilich die Rede, dass ein Einziger nur von diesem Spitzensatz betroffen sei: Rockefeller! Bis zum Ende der siebziger Jahre fiel die Höchstbelastung in den Vereinigten Staaten nicht unter die 70 Prozent-Marke; danach erfolgte der Reagan’sche Einschnitt, der auch für die Steuerpolitik europäischer Staaten seine Weiterungen haben sollte, zunächst für das England der Margaret Thatcher, mit beträchtlicher Verzögerung auch für Deutschland, das den Spitzensatz im Jahre 2004 auf 42 Prozent senkte. Heute gilt in den USA für Einkommen ab 373 651 Dollar ein maximaler Besteuerungssatz von 35 Prozent, also etwa halb so viel wie in den sechziger Jahren.
Der „Zeit“-Artikel hält schliesslich fest, dass die Spekulation Reagans auf steigende Steuereinnahmen sich nicht erfüllte. Was stetig anwuchs, das waren die Haushaltsdefizite und mithin die Staatsverschuldung. Doch solche Erfahrungstatsachen hindern Wirtschaftspolitiker nicht daran, unbeirrt an ihrer Logik der belebenden und fiskalpolitisch sanierenden Wirkung von Steuersenkungen festzuhalten.
Für uns ist an die Steuerhoheit der Kantone und die sich daraus ergebenden Differenzen zu erinnern; von einem einheitlichen Spitzensteuersatz kann daher nicht gesprochen werden. Auf maximaler Progressionsstufe und ungünstiger Steuerdomizilierung könnte die grösstmögliche Abschöpfung in der Schweiz um die 40 Prozent ausmachen. „Könnte“… Diese Konstellation wissen Spitzenverdiener zu vermeiden. Sie ziehen eine Ausserschwyzer Gemeinde gewöhnlich einem jurassischen Dorf vor. (JT)