Juristen und Forscher kritisieren an der Jahrestagung der Eidgenössischen Kommission für Migration (EKM) in Bern die Benachteiligung von Ausländern und Asylsuchenden.
In den letzten Jahren ist die Zahl der armen Menschen in der Schweiz gestiegen, gleichzeitig sind die Reichen reicher geworden. Trotzdem ist die Zahl der Menschen, die Sozialhilfe in Anspruch nehmen, seit dem Jahr 2017 leicht gesunken. Wie ist das möglich? Dieser und anderen Fragen war eine Studientagung der EMK gewidmet.
Aufgrund der Verschärfung des Ausländergesetzes im Jahr 2018 ist für Ausländer die Sozialhilfe zu einem Risiko geworden. Wer nicht Schweizer Bürger ist und keinen Pass eines Staates der EU- oder der EFTA hat, kann wegen Bezugs von Sozialhilfe dazu gezwungen werden, die Schweiz zu verlassen. Sogar die Niederlassungsbewilligung (C-Bewilligung), die zuvor eine Garantie war, unbefristet in der Schweiz bleiben zu dürfen, kann eine Person verlieren, sofern sie dauerhaft und in erheblichem Mass auf Sozialhilfe angewiesen ist, auch wenn sie zuvor über ein Dutzend Jahre in der Schweiz gearbeitet hat.
Weniger Sozialhilfe führt nicht zum Ziel
Diesen Personen wird sodann eine B-Bewilligung erteilt, die bei fortdauerndem Sozialhilfebezug ebenfalls widerrufen werden kann, so dass die betreffende Person die Schweiz verlassen muss. Es ist möglich, den Entzug einer Bewilligung anzufechten, doch das ist aufwändig und ein unsicheres Unterfangen. Nach einem Urteil des Bundesgerichts kann die C-Bewilligung bereits nach dem Bezug von Sozialhilfe in der Höhe von 50’000 Franken widerrufen werden, wie Eva Maria Belser, Professorin an der Universität Freiburg, in Bern darlegte. Die Rückstufung von einer C- zu einer B-Bewilligung ist nach Auskunft des Staatssekretariats für Migration bei erheblichem Sozialhilfebezug auch für EU/EFTA-Bürger möglich.
Die Bundesbehörden und die Kantone drängen die Bezüger von Sozialhilfe, rasch eine neue Arbeit zu finden. Wie tun sie das? In dem sie den monatlichen Betrag der Sozialhilfe herabsetzen. Fachleute und Forscher, z. B. Jean-Pierre Tabin von der Fachhochschule Lausanne, Markus Kaufmann, Geschäftsführer der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe und andere, erläuterten an der Studientagung, dass eine solche Bestrafung der falsche Weg sei. Wer grosse Schwierigkeiten habe, mit dem erhaltenen Geld Ende Monat seine Rechnungen zu bezahlen und sich darauf konzentrieren müsse, bei Essen, Kleidung und anderen Ausgaben zu sparen, verfüge nicht auch noch über die nötige Energie, um mit grossem Einsatz eine Stelle zu suchen. Wer jedoch weniger durch solche Sorgen geplagt sei, dem und der gelinge es eher, eine Stelle zu finden. Bei der Sozialhilfe zu sparen, sei deshalb weder aus wirtschaftlicher noch aus juristischer Sicht erfolgreich, wie verschiedene Studien ergeben hätten.
Bundesrätin Keller-Sutter wollte noch mehr sparen
Gleichwohl hat Bundesrätin Karin Keller-Sutter – als Justizministerin war sie für den Bereich Migration zuständig – vor einigen Jahren ein Postulat von freisinnigen Ständeräten entgegengenommen. Dieses verlangte, dass die Sozialhilfe für Personen aus Drittländern (nicht EU/EFTA-Staaten) während der ersten drei Jahre zusätzlich herabzusetzen sei. Zu den Vorschlägen des Polizei- und Justizdempartements ist die Vernehmlassung seit längerem abgeschlossen, doch der Bundesrat hat über das weitere Vorgehen noch nicht entschieden. Je nach Beurteilung der Ergebnisse der Vernehmlassung könnte unter der neuen Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider die Gesetzesrevision abgebrochen werden.
Wird die Bundesverfassung stets respektiert?
An der Studientagung in Bern hat Professorin Belser auf die Bundesverfassung und auf Bundesgesetze hingewiesen, die allen Menschen die soziale Sicherheit gewähren. Für die Sozialversicherungen wie die AHV ist der Bund zuständig, währen die Sozialhilfe in die Kompetenz der Kantone fällt. Das hat zur Folge, dass Sozialhilfebezüger je nach Wohnort von den Behörden sehr unterschiedlich behandelt und unterstützt werden, was viele als ungerecht empfinden.
Die Bundesverfassung schliesst Diskriminierungen aufgrund von Herkunft, Rasse, Geschlecht, Sprache etc. aus; sie wird jedoch nicht immer respektiert: Ausländer und Asylsuchende haben weniger Rechte als Schweizerinnen und Schweizer. Sofern ein kantonales Gesetz nicht mit der Bundesverfassung übereinstimmt, kann das Bundesgericht eine Korrektur verlangen. Doch wenn das Bundesgericht ein Bundesgesetz als mit der Verfassung nicht als vereinbar erachtet, muss das höchste Gericht das Bundesgesetz trotzdem anwenden und durchsetzen. Frau Belser bedauerte die Tatsache, dass es in der Schweiz kein Verfassungsgericht gibt. Viele Juristen und Richter sind ebenfalls ihrer Meinung, doch die bürgerliche Mehrheit des Parlaments will ihr Privileg bewahren, die Bundesverfassung nach ihrem Gutdünken zu interpretieren. Es ist also ein steiniger Weg, die Rechtsstellung von Ausländern und Asylsuchenden jener der Schweizerinnen und Schweizern anzugleichen.
Ein Hoffnungsschimmer
Zur Eröffnung der Tagung sprach die neue Justizministerin, Elisabeth Baume Schneider, der Migrationskommission ihren Dank für deren Tätigkeit aus. Das sind neue Töne; in den letzten Jahren hatte die damalige Justizministerin Karin Keller-Sutter die Tagung nie besucht. Baume-Schneider hat einen anderen Zugang zur Migration und ganz allgemein zu den Menschen, die auf der Schattenseite leben.