In meinen Breitengraden ist der Mai kein Wonnemonat. Es stimmt, die Mangos werden reif, und keine Frucht ist so sündhaft gut wie eine Alfonso. Und je gnadenloser die Sonnenbestrahlung, desto prächtiger die Flame of the Forest-Bäume und Jacaranda-Blüten. Doch mit der lähmenden Hitze kommt bei uns auf dem Land auch die Zeit, wenn Transformer Feuer fangen und Kühlgeräte aussteigen; erst der Abend bringt dann etwas Kühlung.
Im Verkehr zwischen Menschen kommt es zu Kurzschlüssen, und ein Streit schlägt rasch in Gewalt um, wie kürzlich erst, als „Nachbars Hund“ auf einer fremden Veranda zu Streit und – Totschlag führte. Es wirkt dann beinahe kathartisch, wenn plötzlich ein Sandsturm losbricht.
Letzte Woche zog ein solcher Tufaan über Nordindien, knickte Strommasten und wirbelte in der plötzlichen Dunkelheit Metallbehälter und Gemüsekarren, Verkehrsbojen und Bauabschrankungen durch die Strassen. Über hundert Menschen kamen ums Leben. Aber las man danach die Lokalzeitungen, wirkte er eher wie eine erlösende Entladung statt der Katastrophe, von der die internationalen Medien berichteten.
Keine sommerliche Auszeit
Aber eine mediale Saure-Gurken-Zeit gibt es hier nicht, dafür ist der gesellschaftliche Umbruch zu gross. Selbst für eine Sonntagszeitung wie „The Hindu“ gibt es keine sommerliche Auszeit. Wann wird das ländliche Indien endlich wasserschlau?, könnte man die eine Schlagzeile übersetzen. Der Autor berichtet über eine Studie, die einen dramatischen Rückgang des Grundwassers anzeigt. Im Klammergriff zwischen geringeren Monsun-Niederschlägen und exzessivem Konsum zapfen die Bauern ihr Grundwasser an.
Der Staat reagiert darauf wahlpolitisch folgerichtig und ökonomisch falsch: Er subventioniert den Strom, der Wasser bis aus einer Tiefe von 250 Metern hervorholt; und er garantiert den Reis- und Zuckerrohr-Bauern Minimalpreise. Dabei konsumieren allein diese beiden wasserhungrigen Saaten rund fünfzig Prozent der nationalen Wasserressourcen. So kommt es, dass der Punjab immer noch der grösste Reisanbauer des Landes ist, obwohl ein Kilogramm Basmati dreimal soviel Wasser braucht wie ein Kilo Bihar-Reis.
Die zweite Schlagzeile – wie könnte es anders sein im Indien von 2018 – ist so sachlich formuliert, dass man förmlich spürt, wie sexuelle Gewalt zu einem Alltagsdelikt geworden ist: Fünfzehn in Haft nach Vergewaltigung und Mord in Jharkhand. Die Story: Bei einer Dorf-Hochzeit wird ein 13-jähriges Mädchen von einer Gruppe Männern entführt und mehrfach vergewaltigt.
Todesstrafe für Vergewaltigung
Die Familie reicht beim Dorfrat Klage ein. Dieser verurteilt den Hauptangeklagten zu einer Strafe von 50’000 Rupien und – 101 Liegestützen. Über so viel Ehrverletzung erzürnt, gehen die Vergewaltiger auf die Familie los, verprügeln Männer und Frauen, die alle das Weite suchen. Alle, ausser dem vergewaltigten Kind. Als die Familie zurückkehrt, findet sie dessen eingeäscherte Leiche in den Trümmern des Hauses.
Nun erwartet die Männer – darunter einige Gemeinderäte – eine etwas strengere Strafe als 101 Push-ups. Nach dem grausamen Mord an einem kaschmirischen Mädchen hat die Regierung für Vergewaltigung an Kindern die Todesstrafe eingeführt. Für den Leitartikler im Hindu beweist das Verbrechen im Stammesstaat Jharkhand allerdings, wie falsch diese Kurzschlussreaktion des Staats war: Wenn Vergewaltigung die gleiche Strafe wie Mord zur Folge hat, dann sinkt die Hemmschwelle bei den Tätern, ihr Opfer nicht nur zu missbrauchen, sondern es gleich noch zu töten.
Es wäre ein Leichtes, die Sonntagszeitung weiterhin auf dieser deprimierenden Schiene zu durchforsten. So könnte man etwa die Geschichte über Dr. Abdus Salam erwähnen. Eine Parlamentsmehrheit in Pakistan hat der Universität Islamabad empfohlen, das Abdul Salam Centre for Physics umzubenennen. Grund: Der 1996 verstorbene Salam war ein Ahmediya gewesen.
Für Abwechslung sorgen
Die Ahmediyas sind eine muslimische Minderheit, die gemäss der sunnitischen Sharia-Verfassung Pakistans keine Muslims sind und sich der Blasphemie schuldig machen, wenn sie beim Korangebet erwischt werden. Und warum trägt das Physik-Institut den Namen dieses Häretikers? Weil Abdus Salam 1979 den Nobelpreis für Physik erhielt – Pakistans bisher einzige Nobel-Auszeichnung (bis zum Osloer Friedenspreis für Malala Yusufzai).
Indien ist auf gutem Weg zu seiner Hindu-Sharia. Der gleiche Bericht erwähnt die Forderung eines BJP-Parlamentariers, das Porträt von M. A. Jinnah sei aus den Räumlichkeiten der Aligarh Muslim University in der Nähe von Delhi zu entfernen. Jinnah war ein Förderer der Universität gewesen. Doch als „Vater der pakistanischen Nation“ hat er in einer indischen Universität nichts zu suchen.
Zeitungslektüre soll nicht nur eine tägliche Gewissenserforschung sein. Auch ein liberales Blatt wie The Hindu ist ein Konsumartikel, und deshalb muss für Abwechslung gesorgt sein. Ein besonders beliebtes Sonntags-Sujet sind marginalisierte und gleichzeitig exotisierte Minderheiten: Nomaden, Transgenders, Stammesgruppen.
Braut für einen Tag
Ausgerechnet diese gehören zu den Gemeinschaften, die in fast allen Lebensbereichen zu den Verlierern von Indiens Modernisierungsmodell zählen. Eine Kurznachricht beweist es. Ihr gemäss hat das Obergericht in Mumbai die Lokalregierung aufgefordert, Berichten von NGOs nachzugehen, wonach zwischen September 2017 und Februar 2018 über 300 Kleinkinder im Stammesgebiet von Maharashtra an Unterernährung gestorben seien.
Doch das ist ein fait divers. Eine ganze Doppelseite in der Beilage des „Hindu on Sunday“ ist einem Fest im Dorf Koovagam in Tamil Nadu gewidmet. Im lokalen Tempel wird jedes Jahr eine Geschichte aus dem Mahabharata aufgeführt. Um den Krieg zwischen den Pandavas und den Kauravas zu verhindern, ist der Krieger Aravan bereit, sich zu opfern – unter einer Bedingung: Eine Frau muss ihn heiraten, wohlwissend, dass sie am nächsten Tag eine Witwe sein wird.
Da sich niemand meldet, verwandelt sich Gott Krishna in eine junge Frau namens Mohini und wird Aravans Braut – für einen Tag. Heute sind es mehrere tausend „Frauen“, die sich dort einmal im Jahr trauen lassen: Transgenders aus ganz Tamil Nadu strömen zur Massenhochzeit herbei. Sie werden alle getraut, bevor ihnen das Ehe-Halsband wieder durchschnitten und die gläsernen Armreifen zertrümmert werden – die symbolische Initiation zum Witwendasein.
Good News im Wirtschaftsteil
Einzig in einem Aspekt hat sich die Moderne in diesen alten Brauch geschlichen: Vor der Massen-Hochzeit gibt es einen Schönheitswettbewerb, wie er bei vielen Transgender-Anlässen beliebt ist. Die gekürte Ms. Koovagam wird zur ersten Braut Aravans, und sie ist dann ein Jahr lang dessen erste Witwe. Ein Zitat der neuen Schönheitskönigin deutet an, warum diese Geschichte in ihrer Mischung von Sehnsucht und Trauer gerade die Transgenders anspricht: „We too fall in love, though we can’t have children.“
Man muss bis zu den Wirtschaftsseiten der Zeitung vorstossen, um auch mit Good News versorgt zu werden. Dazu gehört paradoxerweise der bevorstehende Verkauf von Flipkart, dem grössten E-Commerce-Anbieter des Landes. Walmart ist Amazon zuvorgekommen und erwirbt eine Aktienmehrheit.
Warum ereifert sich niemand gegen diese ausländische Übernahme, fragt der Kommentator. Im Gegenteil, man sei stolz auf dieses indische Eigengewächs mit einem Marktwert von 18 Mia. $, das ein solches Bietgefecht zwischen zwei Konsumgiganten ausgelöst habe. Nur wenige wüssten, fügt er ironisch an, dass auch Flipkart inzwischen gar kein indisches Unternehmen mehr ist: Es wird von internationalen Gross-Investoren wie Softbank und Alibaba kontrolliert.
Midnight’s Child
Auch dies ist also nur bedingt eine „Gute Nachricht“. Erst im Lokalteil werde ich fündig. In einem Porträt wird ein Oberrichter in Bombay vorgestellt, der oft bis drei Uhr morgens in seiner Kammer sitzt, Parteien anhört und Urteile fällt. Er habe bei seinem Amtsantritt geschworen, das jeweilige Tagespensum zu erfüllen – manchmal über hundert Fälle.
In der zweiten Geschichte spielt ausgerechnet die vielgeschmähte Polizei ihre Rolle als Freund und Helfer. Auf dem Bahnsteig von Thane (einem Vorort von Bombay) halfen zwei Beamte einer jungen Frau am Samstag kurz nach Mitternacht, ihr Kind zu entbinden. Sie hatte es nicht mehr geschafft, mit dem Zug zum Krankenhaus zu kommen und ein Taxi war zu teuer. Sie brachten darauf Mutter und Baby mit Blaulicht ins Spital. „Midnight’s Child“ lautete der Titel der Story.