Die Sommerferien stehen vor der Tür. Wohin fahren Sie, bleiben Sie zu Hause, was lesen Sie? Journal21-Autorinnen und -Autoren empfehlen Ihnen Bücher für den Strandkorb, den Balkon oder die Hängematte.
- KLARA OBERMÜLLER EMPFIEHLT
Joshua Cohen: Die Netanjahus
Dass Ben-Zion Netanjahu, der Vater des israelischen Ministerpräsidenten, verschiedene Professuren in Amerika innehatte, ist verbürgt, sein Antrittsbesuch am Corbin-College hingegen gehört ins Reich der Phantasie. Bericht erstatten lässt Autor Joshua Cohen ein Mitglied des Lehrkörpers, einen gewissen Ruben Blum, der als einziger Jude am College geeignet erscheint, den Gast aus Israel zu betreuen. Für Joshua Cohen wird er zum Sprachrohr, dem er seine eigenen Ansichten zu Judentum, israelischer Politik und Antisemitismus in den Mund legen kann. Er tut es mit so viel Witz und Sarkasmus, dass der eigentliche Anlass der Erzählung mehr und mehr in den Hintergrund tritt. Erst auf Seite 168 der deutschen Ausgabe fallen die Netanjahus, Ben-Zion, seine Frau Zila und die drei Jungs, endlich in die beschauliche Welt Ruben Blums ein, dann allerdings mit solcher Wucht, dass kein Stein auf dem andern bleibt und begründete Kritik von ätzender Parodie kaum mehr zu unterscheiden ist. Dem Autor hat dies den Pulitzerpreis eingetragen – durchaus zu Recht.
Schöffling, Frankfurt a. M., 2022, 288 Seiten
Annabelle Hirsch: Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten
Auf die Idee muss man erst mal kommen: die Geschichte der Frauen nicht entlang historischer Dokumente und Zeugnisse zu erzählen, sondern anhand von Alltagsgegenständen, die jeder für sich eine signifikante Episode aus der Unterdrückungs- und Emanzipationsgeschichte des weiblichen Geschlechts beleuchtet. Der Gang durch die Zeiten beginnt mit einem prähistorischen Knochenfund und reicht über so skurrile Dinge wie stählerne Korsette oder venezianische Stelzenschuhe bis hin zu den Tupperware-Dosen und Menstruationstassen unserer Tage. Kenntnisreich und farbig präsentieren sich die Beschreibungen, die, stets ausgehend von einer Abbildung, die Objekte zum Sprechen bringen. Dabei erfährt man viel Wissenswertes, von dem man bis anhin keine Ahnung hatte: etwa, dass man sich mit der Hutnadel gegen aufdringliche Männer zur Wehr setzen konnte, oder dass die Erfindung der Schreibmaschine ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg in die weibliche Selbstermächtigung war.
Kein & Aber, Zürich, 2022, 416 Seiten
George Eliot: Middlemarch. Eine Studie über das Leben in der Provinz
Wer wissen will, was sich im Verhältnis der Geschlechter in den vergangenen bald 200 Jahren verändert oder eben auch nicht verändert hat, der tauche ein in die Welt von Middlemarch, einem fiktiven Ort in der englischen Provinz, den die Autorin Mary Anne Evans, besser bekannt als George Eliot, zum Schauplatz ihrer Eheanbahnungs- und Ehealltagsgeschichten gemacht hat. Erschienen ist der Roman 1871, angesiedelt ist die Handlung ums Jahr 1830: ein raffinierter Trick der Autorin, die Zustände ihrer Zeit sowohl zu verfremden als auch zu entlarven. Mit dem scharfen Blick der Aussenseiterin schaut Mary Anne Evans, die als Geliebte eines verheirateten Mannes selbst ein mehr als unkonventionelles Leben führte, ihren Protagonistinnen und Protagonisten bei ihrem vergeblichen Bemühen, ein glückliches Leben zu führen, zu. Schonungsloser noch, als dies ihre Vorgängerin Jane Austen getan hatte, verfolgt sie sie auf ihrem Weg von den Höhen ersten Verliebtseins in die Niederungen eines tristen Ehealltags. Wie sie dabei Sehnsüchte, Illusionen und Enttäuschungen in Worte fasst, ist grosse Literatur.
dtv, München, 2019, 1152 Seiten
- STEPHAN WEHOWSKY EMPFIEHLT
Claus-Peter Lieckfeld: Heide
Die norddeutsche Heidelandschaft hat eine ganz eigene Magie. In ihrer Kargheit erschliesst sie sich nicht auf den ersten Blick. Wer sie aber auf sich wirken lässt, wird schwer wieder von ihr loskommen. Der Buchautor und Journalist Claus-Peter Lieckfeld hat darüber einen Essay geschrieben, der zu einer erholsamen Reise mit dem Kopf einlädt. Von Jugend an war Lieckfeld von der Heide fasziniert und hat sich detailliert mit ihrer Geschichte, auch der geologischen, beschäftigt. Er breitet sein Wissen in einem wohltuenden Plauderton aus, beschreibt Heidschnucken und spezielle menschliche Charaktere und vergisst auch nicht, von Spuk und Geistern zu berichten.
European Essays on Nature and Landscape, KJM Buchverlag, 2023, 135 Seiten
Rüdiger Safranski: Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie
Rüdiger Safranski ist für seine packenden Darstellungen grosser Denker und Schriftsteller bekannt. Die Fachwelt erwartet mit Spannung seine Kafka-Biographie, die im kommenden Jahr zum 100. Todestag Kafkas erscheinen soll. Im vergangenen Jahr hat der Hanser-Verlag mit dem Band über Schopenhauer eines seiner frühen und ganz besonders gelungenen Bücher neu aufgelegt. Bis heute hat es von seiner Lebendigkeit und Spannung nichts eingebüsst. Man staunt darüber, mit welchem Vergnügen Safranski in die damaligen Lebensumstände eintaucht und mit welcher Treffsicherheit er die philosophischen Debatten auf den Punkt bringt.
Hanser, München, 2022, 560 Seiten
Renée Rosen: Cosmopolitan. Die Zeit der Frauen
Der internationalen Zeitschrift Cosmopolitan drohte Mitte der 1960er Jahre die Einstellung. In ihrer Not machten die Herausgeber Helen Gurley Brown zur Chefredakteurin, die 1962 mit «Sex und ledige Mädchen» einen millionenfach verkauften Bestseller gelandet hatte. Renée Rosen schildert, wie die von ihr erfundene Alice Weiss bei Gurley Brown als Sekretärin anfängt und die beiden Cosmopolitan zur höchst erfolgreichen Frauenzeitschrift umbauen. In der Gestaltung hat der Verlag dem Buch einen dicken feministischen Anstrich verpasst, so dass man zunächst nicht erwartet, einen souverän geschriebenen spannenden Text mit einer stets durchschimmernden Prise Humor vorzufinden. Eine schöne Überraschung!
Rowohlt TB, 2023, 448 Seiten
- IGNAZ STAUB EMPFIEHLT
Don Winslow: City of Dreams
In einer auf griechischen Dramen basierenden Trilogie erzählt Don Winslow das bewegte Leben eines irischen Mafioso aus Providence (Rhode Island), der nach einem in «City of Fire» geschilderten Krieg mit der italienischen Konkurrenz seine Heimatstadt verlassen muss und in «City of Dreams» mit seinem kranken Vater und dem jungen Sohn in Los Angeles untertaucht. Doch auch dort holt ihn seine kriminelle Vergangenheit ein, als er mit erbeutetem Geld in einen Hollywood-Film investiert. Er verliebt sich in eine Starschauspielerin muss nach deren Suizid aus L.A. nach Las Vegas fliehen, wo «City in Ruins» 2024 schildern wird, wie es ihm im Spielerparadies ergeht. All das schildert Winslow, durch seine Romane über das mexikanische Drogen-Milieu bekannt geworden, in einer unnachahmlich packenden Sprache, die nichts und niemanden verschont oder kalt lässt.
HarperCollins, New York, 2023, 352 Seiten
Margaret Sullivan: Newsroom Confidential
Margaret Sullivan, die frühere Ombudsfrau der «New York Times» und Medien-Kolumnistin der «Washington Post», ist eine der unbestechlichsten Beobachterinnen der US-Presseszene. Basierend auf ihrer langjährigen Redaktionserfahrung diagnostiziert die heutige US-Kolumnistin des Londoner «Guardian» in ihren Memoiren «Newsroom Confidential», woran der amerikanische Journalismus heute krankt. Für Besorgnis erregend hält sie vor allem das scheinbar unaufhaltsame Verschwinden von Lokalzeitungen und den Verlust an demokratischer Kontrolle in den dadurch entstehenden «news deserts». In einer Zeit, da 40 Prozent der Menschen weltweit den Medien nicht mehr vertrauen und Fake News zunehmend grassieren, fordert Sullivan von der Presse mehr Transparenz und Diversität sowie das schonungslose Offenlegen ihrer Praktiken.
St. Martin’s Press, New York, 2022, 269 Seiten
Moises Saman: Glad Tidings of Benevolence
Der spanisch-peruanische «Magnum»-Fotograf Moises Saman gilt als einer der profiliertesten Kriegsberichterstatter der heutigen Medienwelt. Er gehört nicht zu jener Spezies von Reportern, die bei Ausbruch eines Konflikts kurzfristig auftauchen, um nachher unbeeindruckt weiterzuziehen. Vom Dach eines Hotels in Bagdad aus beobachtet Saman 2003, wie die ersten amerikanischen Bomben auf die irakische Hauptstadt fallen. In der Folge ist er bis zum Ende der Kämpfe im Jahr 2011 wiederholt ins Land zurückgekehrt, um zu dokumentieren, welchen Preis die irakische Bevölkerung für die unprovozierte Invasion der USA zahlte. Der Bildband «Glad Tidings of Benevolence» ist ein Mix von Bildern und Textfragmenten, die eindrücklich aufzeigen, aus wie unterschiedlichen Perspektiven ein moderner Krieg und dessen Auswirkungen erlebt werden können.
Fotoband, GHOST, London, 2023, 384 Seiten
- HEINER HUG EMPFIEHLT
Julia Ebner: Massenradikalisierung
Die österreichische, am Londoner Institute for Strategic Dialogue forschende Autorin, berät die Uno, die Nato und die Weltbank zum Thema Extremismus im Internet. Ihr 2019 erschienenes Buch «Radikalisierungsmaschinen» (siehe Journal21) hat viele aufgerüttelt. Der jetzt vorgelegte Text ist eine Erweiterung. Dank den sozialen Medien haben Extremisten viel Einfluss gewonnen und drohen unsere Demokratie ins Wanken zu bringen. Julia Ebner dringt in die Maschinenräume der extremistischen Bewegungen vor, schleust sich ins Darknet ein. Zwei Jahre war sie mit verschiedenen Identitäten undercover unterwegs. Sie beobachtete, wie Extremisten Terroranschläge planen, Deformationskampagnen starten und Einschüchterungsfeldzüge koordinieren. Ein Buch, das erschaudern lässt.
Suhrkamp, Berlin, 2023, 356 Seiten
Bruno Fuchs: Reiche Schweiz, arme Menschen
Die Reichen werden immer reicher, und in der Schweiz leben 8,7 Prozent der Bevölkerung in entwürdigender Armut – eine schrecklich hohe Zahl. In der «auf Leistung getrimmten Schweiz» begegne man Armen oft mit Widerwillen, schreibt der Autor. Bruno Fuchs hat elf arme, völlig verschiedene Männer und Frauen porträtiert. Allen ist gemein: Sie schämen sich für ihre Armut. Die Gesellschaft zeigt oft wenig Verständnis für ihre Situation: «Entweder du bist Alkoholiker, Drogenabhängiger, hast psychische Probleme oder bist faul», sagt eine der Porträtierten. Auf dem Sozialamt werden die Armen oft rüde behandelt. Ein Sozialbeamter empfiehlt einer Frau, auf den Strich zu gehen. Würde haben die Armen oft keine mehr. Ein aufrüttelndes Buch.
elfundzehn, Zürich, 2023, 170 Seiten
Felix E. Müller: Gespräch mit Alain Berset
Nach der Rücktrittsankündigung von Alain Berset ist dieses vor drei Jahren erschienene Buch des ehemaligen Chefredaktors der NZZ am Sonntag wieder hochaktuell. Wie tickte und tickt Berset, der wohl einer der schwierigsten Jobs der letzten Jahre innehatte, der sich mit Verschwörungserzählern und anderen seltsamen Menschen herumschlagen musste, der angefeindet und verunglimpft wurde. Das Gespräch offenbart auch viel Persönliches von Berset. Er, der als Pfau kritisiert wird, gibt sich auch selbstkritisch. Nach der Lektüre kommt man zum Schluss: Er hat alles gegeben, er hat in dieser völlig neuen Situation auch Fehler begangen, aber wer hätte es besser gemacht?
NZZ libro, Zürich, 2020, 106 Seiten
- URS MEIER EMPFIEHLT
Peter Stamm: In einer dunkelblauen Stunde
Andrea, eine Dokumentarfilmerin von etwa vierzig Jahren, dreht ein Porträt des etwas älteren Schriftstellers Richard Wechsler. Als dritte Hauptperson taucht die Pfarrerin Judith auf, die neben einer erloschenen Ehe seit ihrer Jugend heimlich Wechslers Geliebte ist. Auch zwischen Andrea und dem Schriftsteller knistert es, was die Filmemacherin nicht hindert, sich mit Judith anzufreunden. In einer nichtlinearen Erzählung zeichnet Stamm das instabile Beziehungsgeflecht, in dem die Figuren keinen festen Stand finden, aber sich dennoch füreinander öffnen. – Moderne Menschen im Licht ironischer Milde.
S. Fischer, Frankfurt am Main, 2023, 253 Seiten
Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt
Das aus Judith Hermanns Frankfurter Poetikvorlesungen hervorgegangene Buch reflektiert über das Schreiben quasi hintenherum, indem es unerzählte Geschichten ans Tageslicht holt: der Vater, den sie liebt und von sich fernhält; die zehnjährige Psychoanalyse, deren Ergebnislosigkeit sie als gültiges Resultat begreift; die Wahlfamilie, die ihr Zuhause ist und ihr fremd bleibt. Judith Hermann führt eine leichte und genaue Sprache, die von den Dramen des Lebens wenig Aufhebens macht und in ihrer Beiläufigkeit zu grosser Kunst wird.
S. Fischer, 2023, Frankfurt am Main, 188 Seiten
Manfred Krug: Tagebücher
Krug war als Tatort-Kommissar Stoever und als zupackender Rechtsanwalt in der von Jurek Becker geschriebenen TV-Serie «Liebling Kreuzberg» eine Kultfigur. Schon in der DDR war er als Schauspieler und Sänger ein Idol. Nach seinem Eintreten für den ausgebürgerten Wolf Biermann übersiedelte er 1977 in den Westen. Als Schauspieler und Musiker hat Krug das Ohr fürs Erzählen. Was bei ihm hinzukommt, ist der Mut, sich allem frontal zu stellen. Seine Tagebücher sind literarische Dokumente der Selbsterforschung und des aufreibenden Lebens in der Welt der Schauspielerei. Krug starb 2016 mit 79 Jahren.
Ich sammle mein Leben zusammen. Tagebücher 1996–1997, 208 Seiten
Ich bin zu zart für diese Welt. Tagebücher 1998–1999, 301 Seiten,
beide im Kanon Verlag 2022
Die Edition wird fortgesetzt.
- CHRISTOPH KUHN EMPFIEHLT
Olga Tocarczuk: Empusion
«Empusion» heisst der neue Roman der polnischen Autorin und Nobelpreisträgerin Olga Tocarczuk – eine Worterfindung, in der das Symposium, Trinkgelage, und eine antike weibliche Horrorfigur, eben die Empuse, zusammenkommen. Ein packendes und verstörendes Meisterwerk! Die Geschichte spielt kurz vor dem Ersten Weltkrieg im schlesischen Lungenkurort Görbersdorf und liest sich, unter anderem, wie eine Replik auf Thomas Manns «Zauberberg». Wobei die schwer misogynen Protagonisten und Patienten einen kuriosen, pseudowissenschaftlichen, sehr unterhaltsamen Quatsch verbreiten. Erzählt wird, mal leichtfüssig, mal tiefschürfend aus der Perspektive der allwissenden Empusen, die einen anderen, magisch anmutenden Blick auf die Natur werfen und so dem Roman eine weitere sinnlich-geistige Dimension verleihen. Zu erwähnen wäre schliesslich das Übersetzerpaar (Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein), das einen leicht altmodisch grundierten, transparenten Ton gefunden hat, der die Qualitäten des Romans bestens zur Geltung bringt.
Kampa Verlag, Zürich, 2023, 384 Seiten
Matthias Zschokke: Der graue Peter
Der Schweizer Autor Matthias Zschokke versteht sich wie kaum einer aufs reizvolle literarische Minimieren. Peter, der Held oder Antiheld seines jüngsten Romans «Der graue Peter», lebt höchst unauffällig als Beamter in Berlin und erhält den Auftrag, seine Stadt an einem Fest, das die Patenstadt Nancy ausrichtet, zu vertreten. Auf dem Rückweg gerät zufällig ein kleiner Junge in seine Obhut: der macht ihn, der bisher sozusagen empfindungslos existierte, kurzfristig (denn viel Zeit zu leben bleibt ihm nicht) zu einem neuen Menschen. Aufs Subtilste lässt Zschokke seinen Peter sich verändern. Zärtliche, komische, auch bizarre Wendungen und Elemente setzt er ein, um den Veränderungsprozess zu veranschaulichen. Und lässt gelegentlich den Leser, die Leserin in eingeklammerten Sätzen, die seine Fragen an den Stoff, seine Zweifel thematisieren, an der Entstehung des Textes teilhaben. Man begleitet mit zunehmender Anteilnahme diesen tristen Peter durchs Leben – das schafft Zschokke spielerisch und scharfsinnig.
Rotpunktverlag, Zürich, 2023, 176 Seiten
Eugen Ruge: Pompeji
Eugen Ruge, erfolgreicher, vielfach preisgekrönter deutscher Romanautor, legt ein neues Buch vor, in dem er sich, souverän und witzig, auf ein Spiel mit der Geschichte einlässt. «Pompeji oder die fünf Reden des Jowna» behandelt die letzten Jahre vor dem Vulkanausbruch, der vielleicht doch nicht aus «heiterem Himmel» kam. Josse alias Jowna, ein begabter Aufsteiger, vertraut wissenschaftlichen Erkenntnissen, sieht die Katastrophe voraus und tut, als Verblendeter, Korrumpierter schliesslich nichts, um ihr zu entgehen. Mit viel Lust am ironisch unterminierten Fabulieren schildert Ruge die letzten Jahre vor dem Vulkanausbruch. Geschickt vermengt er das, was er aus historischen Quellen schöpft, mit zeitgenössischen Einsichten. Stil und Vokabular sind heutig und so bekommt das antike Thema Aktualität: politische Machenschaften, Geldgier, Korruption vernebeln das kommende Unheil. Wie ein reich bestickter Teppich mutet der Roman an; auf solider, historisch belegter Unterlage breiten sich abenteuerliche Geschichten aus, wie sie den Pompejanern, aber auch uns zustossen könnten.
dtv, München, 2023, 368 Seiten
- REINHARD MEIER EMPFIEHLT
Hanjo Kesting: Thomas Mann. Glanz und Qual
Diesen Essay-Band kann man jedem Leser ans Herz legen, der sich in irgendeiner Weise für Thomas Mann und sein imposantes Werk interessiert – sei es als Einführung für Novizen oder zur Vertiefung für Kenner in diesem Kosmos. Der Autor Hanjo Kesting bekennt im Vorwort, dass er als junger Literaturjournalist zum hundertsten Geburtstag Thomas Manns 1975 eine «rabiate Kritik» an dem Schriftsteller publizierte. Heute gehört er selber zu den Verehrern Thomas Manns, nicht zuletzt wegen der «immensen öffentlichen und politischen Rolle in seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten». Jedes Kapitel in diesem souverän geschriebenen Band ist einer der grossen Erzählungen von Thomas Mann oder einem bestimmten Lebensthema (die Beziehung zu seinem Bruder Heinrich, die Tagebücher) gewidmet. Kesting öffnet inspirierende Zusammenhänge zwischen den Werken des Schriftstellers und seiner keineswegs gradlinigen Biografie. Ein grosses Leseerlebnis.
Wallstein Verlag, 2023, Göttingen, 398 Seiten
Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn
Seit dem Ausbruch des Ukrainekrieges ist von Belarus (oder Weissrussland), das sowohl an die Ukraine als auch an Russland grenzt, nicht mehr viel zu hören. Noch 2020 stand dieses Land wegen der Massenproteste gegen die vom Diktator Lukaschenko gefälschten Wahlen wochenlang in den Schlagzeilen. Sascha Filipenko, der inzwischen in der Schweiz im Exil lebt, beleuchtet in diesem Roman mit Humor und Sinn für Zusammenhänge gesellschaftliche Realitäten in seiner Heimat, der es bisher nicht vergönnt war, sich aus den Fesseln der postsowjetischen Kremlhörigkeit zu befreien. Der bereits 2014 erschienene Roman erzählt die Geschichte des jungen Musikers Fanzisk, der in Minsk auf dem Weg zu einem Rockkonzert verunfallt und ins Koma fällt. Erst nach einem Jahrzehnt wacht er dank dem Einsatz seiner Grossmutter wieder auf und stellt fest, dass fast alles beim Alten geblieben ist.
Diogenes, Zürich, 2021, 320 Seiten
Iwan Turgenjew: Rauch
Der russische Gutsbesitzer Grigori Litwinow wartet in Baden-Baden auf die Ankunft seiner Verlobten Tatjana. Unerwartet trifft er dort seine frühere Jugendliebe Irina, die jetzt mit einem General verheiratet ist. Sie beginnen eine neue Affäre und wollen zusammen fliehen. Doch im letzten Moment schreckt Irina zurück. Grigori hat seine Verlobung mit Tatjana gelöst und kehrt einsam und tief desillusioniert auf sein Gut zurück. «Alles erschien ihm als Rauch … alles Menschliche, besonders alles Russische», heisst es über ihn. Doch das Schicksal wendet sich, Jahre später finden Litwinow und Tatjana doch zusammen. Turgenjew ist unter den grossen russischen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts der profilierteste «Westler». Er lebte lange in Deutschland und in Frankreich und war ein profunder Kenner russischer und westlicher Kultur. Turgenjew zu lesen ist in dieser Zeit des Putinschen Ukrainekrieges auch eine Art Gegengift gegen allzu pauschale und apodiktische Urteile über Russland und seine vielschichtigen Wirklichkeiten.
- ROLF APP EMPFIEHLT
Gabriel Zuchtriegel: Vom Zauber des Untergangs
Man findet hier alles: Bordelle und Paläste, Tempel und Garküchen, enge Sklavenzimmer und prachtvoll ausgemalte Wohnräume. Wie es sich lebte in Pompeji, das am einem Herbsttag des Jahres 79 einem Vulkanausbruch zum Opfer gefallen ist, das schildert der Archäologe Gabriel Zuchtriegel ebenso anschaulich wie nachdenklich. Immer wieder wirft er dabei auch einen kritischen Blick auf seine eigene Wissenschaft. Und er erzählt, wie und warum er selber Feuer gefangen hat für die Menschen, die in Pompeji gelebt haben und hier gestorben sind.
Propyläen Verlag, Berlin, 2023, 238 Seiten
Mathijs Deen: Der Taucher
Es ist eine ganz eigene Welt: Die Nordsee mit dem Wattenmeer, und mit Inseln, die sich wie Perlen aneinanderreihen. Hier, an der Grenze zwischen Holland und dem nördlichsten Teil Deutschlands, wird vor Amrum ein toter Taucher in sehr seltsamer Haltung gefunden – und Liewe Cupido zu Hilfe gerufen, der wohl schweigsamste Kommissar der Krimiliteratur. In geduldiger Kleinarbeit und mit ausgeprägtem Sinn fürs Atmosphärische rekonstruiert er die Geschichte des Opfers, was ihn dann auch in einer überraschenden Volte zur Lösung bringt.
Mareverlag, Hamburg, 2023, 318 Seiten
Alexandra Bleyer: 1848 – Erfolgsgeschichte einer gescheiterten Revolution
Beim Frauenstimmrecht war die Schweiz Nachzügler, ganz anders aber in Sachen Demokratie: Überall scheitert jene Revolution, die vor 175 Jahren, im Februar 1848, von Frankreich ausgehend durch Europa fegt. Nur die Schweiz schafft es, mit dem Bundesstaat die Demokratie auf Dauer zu verankern. In ihrer anregenden Geschichte der 1848er Revolution wirft Alexandra Bleyer einen Blick auf Schicksale, Schauplätze und die vielen Kontroversen, die da ausgetragen werden. Und sie erklärt, warum am Ende die Kräfte des Alten triumphieren. Trotzdem: Ausradieren lässt sich das Revolutionsjahr nicht.
Reclam-Verlag, Ditzingen, 2022, 336 Seiten