- Klara Obermüller empfiehlt
Andreas Schäfer: Das Gartenzimmer
Auch Häuser haben ihre Geschichte, die sie über die Zeiten bewahren und von Besitzer zu Besitzer weitergeben. Andreas Schäfer hat eine solche Geschichte zum Sujet seines neuesten Romans gemacht. Es ist die Geschichte der 1909 von dem Architekten Max Tauber entworfenen Villa Rosen im Berliner Grunewald. In ihr und insbesondere in ihrem Gartenzimmer spiegelt sich das 20. Jahrhundert mit all seinen Verwerfungen und menschlichen Tragödien. Zusammen mit der Familie Leckebusch, die das Haus Mitte der neunziger Jahre erwirbt, kommt man beim Lesen den Geheimnissen auf die Spur, die sich hinter den schönen Mauern verbergen.
DuMont, Köln 2020, 352 S.
Helga Schubert: Vom Aufstehen
Man kann sein Leben als ein in sich geschlossenes Kontinuum darstellen, man kann aber auch einzelne Episoden herausgreifen und sie nach und nach zu einem Ganzen fügen. Diesen Weg hat die letztes Jahr 80 gewordene Schriftstellerin Helga Schubert eingeschlagen. In lockerer Folge erzählt sie Geschichten aus ihrem Leben als Kind einer aus Pommern vertriebenen Kriegerwitwe, als Autorin und Psychotherapeutin in der ehemaligen DDR und schliesslich als alte Frau, die ihren kranken Mann pflegt und Rückschau hält auf das, was sich ihr Leben nennt. Entstanden ist ein tief berührendes Porträt einer Frau, die sich nicht scheut, ihre Wunden zu zeigen. Die Offenheit, mit der Helga Schubert von ihren Traumata spricht, lassen ihre Lebenszugewandtheit umso glaubwürdiger erscheinen.
dtv, München 2021, 224 S.
Cees Nooteboom: Endlose Kreise. Reisen in Japan
Wer schon einmal in Japan war, weiss: Fremder kann man sich kaum irgendwo auf der Welt fühlen. Cees Nooteboom, der grosse Reisende unter den Schriftstellern der Gegenwart, gibt in seinem Japan-Buch diesem Fremdsein Ausdruck. Auf zahlreichen, zum Teil mehrmonatigen Reisen hat er versucht, die Geheimnisse des Landes, seiner Kultur, seiner Lebensweise und seiner Mentalität zu ergründen und dabei im Fremden das Eigene zu erkennen. Im vorliegenden Band legt er zehn zu ganz unterschiedlichen Zeiten entstandene Erzählungen vor, in denen er, begleitet von den Fotografien seiner Frau Simone Sassen, der befremdlichen Schönheit Japans huldigt, ohne über das Hässliche, das es auch gibt, hinwegzusehen.
Schirmer/Mosel, München 2021, 220 S.
- Alex Bänninger empfiehlt
Arnold Esch: Von Rom bis an die Ränder der Welt
Der Leser reist mit vom mittelalterlichen Rom in die Abruzzen, ins Burgund, ans Schwarze Meer, nach Jerusalem als Wegbegleiter von römischen Legionären, kirchlichen Ablasskollektoren und Schweizer Landsknechten. Er spürt die Strapazen zu Fuss und zu Pferd, die Misslichkeit der Unterkünfte und die Schikanen der Zollbeamten. Arnold Esch, herausragender Kenner der römischen Geschichte, schöpft vorab aus bisher unerforschten privaten Aufzeichnungen und erreicht eine fesselnde Informations- und Reflexionstiefe.
C. H. Beck, München 2020, 399 S.
Michael Maar: Die Schlange im Wolfspelz
Dem Germanisten, Schriftsteller und Literaturkritiker Michael Maar gelingen gleichzeitig drei seltene Leistungen: Erstens eine bestechende Antwort auf die ewige Frage, was denn „gute Literatur“ sei, zweitens ein so kluges wie vergnügliches Lehrbuch und drittens eine Sprache, die es literarisch in sich hat. Nach der Lektüre steigen die Ansprüche. Wir werden nicht mehr alle Bücher zu Ende lesen wollen. Zeitgewinn ist uns gewiss.
Rowohlt, Hamburg 2020, 655 S.
- Stephan Wehowsky empfiehlt
Mark Twain: Unterwegs mit den Arglosen
Im Sommer 1867 unternahm Mark Twain in Begleitung von Pilgern eine Reise nach Europa und Palästina. Seine Reiseberichte erschienen in amerikanischen Zeitungen und in Büchern. Allerdings wurden in den Büchern alle spitzen und sarkastischen Bemerkungen so weit abgemildert, dass sie auch in Europa keinen Anstoss mehr erregen konnten. Nun sind die Reportagen erstmals originalgetreu übersetzt worden. Mark Twain war mit seiner bildhaften und pointierten Sprache ein glänzender Berichterstatter. Und auf jeder Seite finden sich funkelnde Bosheiten.
Mare Verlag, Hamburg 2021, 527 S., übersetzt und herausgegeben von Alexander Portmann
George Orwell: Tage in Burma
1934 erschien George Orwells erster Roman «Burmese Days». Hintergrund sind die niederschmetternden Erfahrungen, die Orwell während seiner fünf Jahre in Burma als Polizist und Kolonialbeamter gemacht hatte. Schon in diesem Roman zeigt sich Orwells Fähigkeit, Hochmut und Ignoranz mit beissender Ironie freizulegen. Er nimmt die Kolonialherrschaft auf der Ebene der zahllosen unteren Chargen in den Blick. Im Grunde sind sie unfähige arme Teufel, aber sie schaffen um sich herum die Hölle. Jetzt ist dieser bis heute aktuelle Roman neu übersetzt worden.
Dörlemann, Zürich 2021, 462 S., Deutsch von Manfred Allié
Andreas Herzau: Liberia
Liberia ist mit seinem Bürgerkrieg von 1989 bis 2003 der Inbegriff des Schreckens, übertroffen nur vom Genozid in Ruanda. Aber es gibt eine andere Seite. Der Fotograf Andreas Herzau hat dieses Land nach dem Bürgerkrieg und den Wahlen von 2005 im Jahr 2020 erneut besucht, um sich auf Themen zu konzentrieren, die etwas Aufbauendes oder sogar Heilendes haben. Dabei blendet Herzau die Wunden der Vergangenheit nicht aus. Es ist wohltuend, diese Bilder in Musse zu betrachten. Man spürt Lebensenergie und erkennt Momente der Schönheit.
Nimbus. Kunst und Bücher, Wädenswil 2021, 73 S.
- Ignaz Staub empfiehlt
Elizabeth Becker: You Don’t Belong Here
Das Pantheon der Kriegsberichterstattung haben bisher vor allem Männer bevölkert: Ernest Hemingway. Michel Herr, Dexter Filkins. Frauen wie Hemingways Lebensgefährtin Martha Gellhorn blieben die Ausnahme. Doch jetzt korrigiert Elizabeth Becker, eine frühere Korrespondentin der «New York Times», den ungenügenden Wissensstand. In ihrem Buch «You Don’t Belong Here» schildert sie den Werdegang von drei Kolleginnen, die als Kriegsberichterstatterinnen neue Massstäbe gesetzt haben: die Australierin Kate Webb, die Französin Catherine Le Roy und die Amerikanerin Frances Fitzgerald. Alle drei berichteten sie auf je unterschiedliche und eigenwillige Art kompetent über den Krieg in Vietnam zu einer Zeit, als dies Frauen öffentlich noch kaum zugetraut wurde.
PublicAffairs, New York 2021, 289 S.
Peter Pfrunder (Hrsg.), Pia Zanetti. Fotografin
Die Baslerin Pia Zanetti gehört zu jenen Fotojournalistinnen, die sich nicht in den Vordergrund drängen oder auf spektakuläre visuelle Effekte setzen. Sie zeigt die Menschen, wie sie sind, in ihrer vertrauten Umgebung und ohne Inszenierung. Während den Jahrzehnten ihres Schaffens ist sie stets eine einfühlsame Beobachterin und nie eine Aufmerksamkeit heischende Akteurin gewesen. Was ihren Bildern, egal ob schwarzweiss oder farbig, den Reiz ungezwungener Nähe verleiht. Für das Buch der Fotostiftung Schweiz hat Pia Zanetti ihr gesamtes Archiv gesichtet und, wie Peter Pfrunder im Vorwort schreibt, «einen umfangreichen, assoziativen Bilderfluss» komponiert. Der Band zeigt Aufnahmen aus aller Welt, die im Auftrag renommierter Zeitschriften und Zeitungen entstanden sind.
Scheidegger & Spiess, Zürich 2021, 195 S.
Margaret Coker: The Spymaster of Baghdad
Kriegsgeschichte, heisst es, schreiben die Sieger. Auch der jüngste Krieg gegen den Islamischen Staat (IS) im Irak ist da keine Ausnahme. Dessen Verlauf ist bisher vor allem aus amerikanischer Perspektive beschrieben worden, wogegen kaum etwas über die wichtige Rolle von Irakern bei der Niederschlagung des Terrorstaats bekannt ist. In «The Spymaster of Baghdad» holt Margaret Coker, die Bürochefin der «New York Times» in der irakischen Hauptstadt war, das Versäumte nach. Packend schildert sie den Einsatz der «Falken», einer verschworenen Einsatztruppe unter der Führung von Harith al-Sudani. Unter Lebensgefahr unterwanderten die «Falken» den Gegner, und ihre geheimen Informationen trugen massgeblich dazu bei, den skrupellosen Kämpfern des IS im Irak den Garaus zu machen.
Penguin Viking, New York 2021, 309 Seiten
- Urs Meier empfiehlt
Dimitrij Kapitelman: Eine Formalie in Kiew
Der 33-jährige Dima ist schon mit acht von Kiew nach Leipzig gekommen und will nun Deutscher werden. Dazu muss er wegen einer Geburtsurkunde (deutsche Bürokratie!) nach Kiew reisen (ukrainische Bürokratie!). Als das Dokument mit Mühen glücklich beschafft ist, katapultiert die Ankunft des Vaters das Chaos auf einen neuen Level. Dimas Mutter hat ihren tattrigen Mann zur kostengünstigen Zahnbehandlung in die alte Heimat spediert. Nun muss sich die im Crash-Kurs angeeignete Schlitzohrigkeit Dimas im Härtetest bewähren. Sprachwitz und lakonischer Ton machen die Geschichte zum Kleinod.
Hanser, München 2021, 176 S.
Peter Stephan Jungk: Marktgeflüster. Eine verborgene Heimat in Paris
Der Kosmopolit Jungk zieht weite Kreise um seinen Lieblingsort, den Marché d’Aligre im 12. Arrondissement, in dessen Nähe er wohnt. Sein Schwärmen für diesen Pariser Markt steht im Widerstreit mit seinem genauen Beobachten: Das Multikulti-Paradies ist aus den Fugen, der Genius des Ortes im Niedergang. Über der nüchternen Sprache liegt ein Schleier der Melancholie. Doch trotz der Stimmung von Desillusionierung, Abschied und Verlust meidet Jungk jedes Selbstmitleid. Er lebt ein literarisches Leben. Nicht zufällig ist das Buch Paul Nizon gewidmet, einem Bruder im Geiste.
S. Fischer, Frankfurt am Main 2021, 223 S.
Judith Hermann: Daheim, Roman
Die Erzählerin, geschieden von einem philosophierenden Messie, Mutter einer abenteuerlich reisenden Tochter, ist in ein unheimliches Haus am Meer gezogen. Mit der benachbarten Malerin freundet sie sich an und geht mit deren Bruder, einem Schweinezüchter, eine flüchtige Liaison ein. Ihr eigener Bruder, Kneipenwirt am Ort, hat sich die junge Nike geangelt, eine Versehrte und Verstörte. Verstört ist auch die Natur: Es regnet nicht mehr. Judith Hermann verwebt die Erzählstränge in Sätzen von einfacher Eindringlichkeit, die mehr ahnen lassen, als sie sagen. So verschlossen die Figuren auch sind, entstehen doch Momente kostbarer Nähe.
S. Fischer, Frankfurt am Main 2021, 189 S.
- Reinhard Meier empfiehlt
Juli Zeh: Über Menschen
Dora, eine nicht mehr so junge Werbetexterin, zieht während der Coronakrise aufs Land in Brandenburg. Sie hält es nicht mehr aus in ihrer schicken Berliner Altbauwohnung und mit ihrem zur Paranoia neigenden Freund Robert, der mit Eifer an Greta Thunbergs Lippen hängt. Sie bringt ihr Hündchen Jochen und ihr Fahrrad, dem sie den Namen «Gustav» gegeben hat, mit in das renovationsbedürftige Häuschen, das sie auf dem Land gekauft hat. In dem verwilderten Garten will sie ein Gemüsebeet anlegen. Allmählich kommt sie mit den Dorfbewohnern in Kontakt. Gote, der sich als «Dorfnazi» vorstellt, entpuppt sich als ruppiger, aber auch hilfsbereiter Nachbar, der die AfD wählt und eine schwierige Vergangenheit hat. Juli Zeh erzählt Doras Erlebnisse und Erkenntnisse auf dem flachen Lande in kurzen, einfachen Sätzen. Die Unterschiede der Lebensbedingen und Mentalitäten zum Milieu und den Ansprüchen der urbanen Schickeria sind für sie anfänglich verwirrend. Man liest das Buch, das sofort auf die deutschen Bestsellerliste geklettert ist, mit Gewinn und öfter mit innerem Kopfnicken – auch wenn die Literaturkritik dazu eher die Nase rümpft.
Luchterhand, München, 412 S.
Juri Buida: Nulluhrzug
Jede Nacht um null Uhr rast ein rätselhafter Zug an der kleinen Siedlung Nummer 9 vorbei. Niemand weiss, wohin er fährt und was er in seinen plombierten Güterwagen befördert – Menschen, Holz, Waffen? Die wenigen Menschen haben nur eine Aufgabe: den Zug störungsfrei passieren zu lassen und die Durchfahrt der nächsten Station zu melden. Ansonsten leben sie einen tristen Alltag mit Liebesleid, Intrigen, ohne Perspektiven. Einige Bewohner verlassen die Station, aber man weiss nicht, was mit ihnen geschieht. Übrig bleibt als Stationsvorsteher schliesslich nur noch Iwan Ardabjew, den sie auch Don Domino nennen. Dieser Kurzroman von Juri Buida ist bereits 1993 auf Russisch erschienen, aber erst jetzt ins Deutsche übersetzt worden. Es ist mit dem zentralen Motiv des mächtigen und geheimnisvollen Eisenbahnzuges eine Parabel auf jedes diktatorische System. Sie weckt gleichzeitig Assoziationen zu Stalins Gulag, Trotzkis berühmtem gepanzertem Zug, mit dem er als Oberbefehlshaber der Roten Armee die russischen Weiten durchkreuzte, und zu Kafkas Erzählung «Vor dem Gesetz», dessen Tür dem Wartenden immer verschlossen bleibt. Nicht unbedingt eine leichte Lektüre, aber eine sehr russische Geschichte.
Aufbau-Verlag, Berlin 2020, 142 S.
Christoph Kuhn empfiehlt
Adelheid Duvanel: Fern von hier, sämtliche Erzählungen
Wer sie nicht gelesen hat, sollte das unbedingt nachholen. Zu entdecken ist eine Schweizer Autorin, Adelheid Duvanel (1936–1996), deren Werk aus Hunderten von Kurzgeschichten besteht. Im Limmat Verlag ist nun eine Gesamtausgabe dieses Erzählwerks erschienen, zu dem die Herausgeberin Elsbeth Dangel-Pelloquin ein schönes Nachwort und Friederike Kretzen einen ebensolchen Essay beigesteuert haben. Duvanel, die selber ein schweres Leben hatte, beschreibt Randständige, Unglückliche, Vereinsamte, Spinner, psychisch Angeschlagene in einem umwerfenden, mit nichts und niemandem zu vergleichenden Stil. Da wechseln Sarkasmus, Komik mit dramatischen und traumatischen Stimmungen. Eindrückliche Bilder entstehen, Surreales dringt ins Geschehen ein und die fremden Welten, die aufs Knappste geschildert werden, prägen sich ein, leuchten auf und verglühen.
Limmat Verlag, Zürich 2021, 791 S.
T. C. Boyle: Sprich mit mir
Der 73-jährige T. C. Boyle gehört schon lange zu den besten Erzählern Nordamerikas. In seinem neuen Roman «Sprich mit mir» begibt er sich in die Welt der Tierexperimente, der Laborversuche, sinniert über Grenzbereiche zwischen Mensch und Tier – und verpackt das alles in einer süffigen Erzählung mit einem Schimpansen als Hauptrollenträger. Sam, der sich in der Gebärdensprache gut und verständlich ausdrücken kann, ist ein unheimliches Geschöpf, eine Art Tiermensch, und sein Erfinder Boyle hat sich wissenschaftklich so weit kundig gemacht, dass es seinem Geschöpf nicht an Glaubwürdigkeit fehlt. Im mitleidlosen US-Wissenschaftsbetrieb ergeht es Sam und seiner menschlichen Freundin schlecht. Und so wird der erstaunliche Affe anderen, finanziell mehr versprechenden Interessen geopfert, was Boyle gekonnt darzustellen versteht.
Hanser Verlag, München 2021, 349 S., aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren.
- Roland Jeanneret empfiehlt
Frank Fabian: Die grössten Lügen der Geschiche
Was stimmt, was nicht von dem, was wir in Schulbüchern und in «seriösen» Bibliotheken vorgesetzt bekamen? Was war echt Geschichte und was waren bloss Geschichten? War die Sintflut Mythos oder Katastrophe? Weshalb sollte Kleopatra die schönste Frau der Welt gewesen sein? Hat Robin Hood jemals existiert und was hat Galileo Galilei tatsächlich gewusst? Starb Tschaikowsky an Selbstmord oder Cholera? Bücher, welche die Wahrheit über unsere Menschengeschichte hinterfragen und Ereignisse, die zwar wirklich – aber teils ganz anders – stattgefunden haben, tauchen im Buchhandel immer wieder auf. So hat mich seinerzeit «Die 50 grössten Lügen und Legenden der Weltgeschichte» extrem fasziniert. Das war allerdings vor über zehn Jahren und jenes Buch muss man wohl auf dem Flohmarkt oder besser antiquarisch suchen. Wie historische Wahrheiten immer wieder verdreht oder gefälscht wurden, greift mit dem fast identischen Titel der Bestsellerautor Franz Fabian auf. Mittlerweile sind die Recherchemöglichkeiten ausgebaut, die verlässlichen Quellen dank neuer Medien umfangreicher untersucht worden. Einiges an unserer Geschichte musste so in den letzten Jahren umgeschrieben oder zumindest präzisiert und wohl auch kritischer beurteilt werden.
Bassermann, München 2009, 400 S.
- Heiner Hug empfiehlt
Carla Del Ponte: Ich bin keine Heldin
Wie jagt man Kriegsverbrecher, Menschen, die Zehntausende auf dem Gewissen haben? Carla Del Ponte, die frühere schweizerische Bundanwältin und spätere Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs, beklagt den fehlenden politischen Willen der Grossmächte, gegen die Schlächter in Syrien, Ex-Jugoslawien oder in Afrika vorzugehen. Immer wieder sei sie von den USA, der Nato, der Uno und Russland gebremst worden, so z. B. in Ruanda oder im Kosovo, als sie nicht gegen die UÇK ermitteln durfte. Die internationale Justiz sei eine Justiz der Mächtigen. Radovan Karadžić hätte schon viel früher gefasst werden können, wenn der politische Wille dagewesen wäre. Sie beklagt, dass nicht Baschar al-Asad und dem IS der Prozess gemacht würde. Wie ist es, wenn man Kriegsverbrechern, z. B. Slobodan Milošević, gegenübersteht. Sie seien völlig uneinsichtig, schreibt Del Ponte, Reue zeigen sie keine. Sie fühlen sich als Helden.
Westend, Frankfurt 2021, 176 S.
Ayad Akhtar: Homeland Elegien
Eigentlich ist das Buch ein Roman, und doch ist es keiner. Erzähler ist ein in den USA geborener säkularisierter Muslim mit pakistanischen Wurzeln. Er wirft einen nie moralisierenden Blick auf die amerikanische Kultur und Gesellschaft: auf ein zerrüttetes, gespaltenes Land. Das unterhaltsame, mit viel Witz geschriebene Buch ist auch ein Versuch, den Erfolg von Trump zu erklären. Es geht um den amerikanischen Traum, der längst nicht mehr geträumt wird, und um die falschen Versprechen einer morschen Nation, die sich immer noch moralisch überlegen fühlt. Es geht um Rassismus, um Armut, um den tiefen Graben in der Gesellschaft und um den ideologischen Konflikt zwischen Demokraten und Republikanern. Es ist das Amerika des Donald Trump, das auch unter Biden sehr präsent ist. Ist das von Kritikern hochgelobte Buch nun ein Roman oder ein Tatsachenbericht? Es ist beides. Die Europäer sehen nach seiner Lektüre Amerika mit anderen Augen. Salman Rushdie bezeichnet das Buch als «leidenschaftlich, verstörend, fesselnd».
Claasen, Hamburg 2020/21, 464 S., aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren.
Christine Brand: Der Bruder
Die Frau kann schreiben. Meist geht es in den Kriminalromanen von Christine Brand, einer früheren Journalistin des Schweizer Fernsehens, herrlich makaber zu. In einer faszinierenden, knappen und oft witzigen Sprache beschreibt sie Morde und Intrigen, Komplotte und Entführungen. Die Erzählerin ist Journalistin beim Fernsehen und der Polizei immer einen Schritt voraus – dumm, der Polizeichef ist ihr Freund (der dann später in die Luft fliegt). Selbst ein Pädophilenring fehlt nicht, und ein Blinder, der eine Scheinehe mit einer lesbischen Frau eingeht, aber ein Verhältnis mit einer Zierfisch-Verkäuferin hat. Immer wieder gibt es Anspielungen auf das Personal des Schweizer Fernsehens. Sie mag nicht alle SRG-Leute. Morde haben es Christine Brand schon immer angetan. Für eine Reportage über Familienmorde hatte sie den Medienpreis der SRG erhalten. Nach «Die Patientin» und «Blind» legt sie nun mit «Der Bruder» ihren dritten, besten Thriller vor. Alle drei sind prickelnd, oft schräg, fesselnd – spannend und eine entspannende Sommerlektüre.
Blanvalet, Zürich 2021, 544 S.