Indiens Motive für sein Abseitsstehen im Ukraine-Krieg mögen gerechtfertigt sein. Die Frage ist, ob sich dahinter auch eine ideologische Nähe zum «Putinismus» verbirgt.
Wenn ich die Stimmungslage in Indien zum Krieg in der Ukraine beobachte, kommt mir eine kleine Variation zu einem berühmten Anti-Kriegs-Slogan in den Sinn: «Stell Dir vor, es ist Krieg – und niemand sieht hin.» Fernsehen und Zeitungen sind immer noch gespickt mit Bildern und Kriegsberichten, und Think-Tanks produzieren wacker Analysen. In Delhi herrscht diplomatisches Kommen und Gehen – Japans Premierminister, eine Unterstaatssekretärin aus Washington, Chinas Aussenminister waren diese Woche vor Ort.
Aber nun, da die rund 22’500 Inder aus dem Kriegsgebiet evakuiert sind, kehren die meisten politisch Interessierten wieder zur Lokalpolitik zurück, und die grosse Masse schaltet ihr Handy wieder auf Unterhaltung. Es herrscht ein vages Unwohlsein – aber für dieses Gefühl gibt es im eigenen Haus genug Anknüpfungspunkte: politische Morde, Korruptionsfälle, Postenschacher, seit Jahrzehnten überfällige Gerichtsurteile. Und natürlich melden sich – hier kreuzen sich Krieg und Bazar – die rasch steigenden Lebenskosten.
Was hatte die Nato in Afghanistan zu suchen?
Diese Befindlichkeit passt der Regierung gut ins Konzept. Es gibt wenig Druck, Farbe zu bekennen und sich das etwas kosten zu lassen, politisch oder wirtschaftlich. Putins Invasion ist zwar eine völkerrechtliche Todsünde, aber – und hier beginnt der «What-aboutism» – was taten die USA anderes im Irak, in Kosovo, Afghanistan? Und à propos Afghanistan: Was hatte die Nato dort zu suchen?
Zudem hat Indien bekanntlich allen Grund zur Zurückhaltung. Selbst die Besucherin aus Washington, Victoria Nuland, zeigte Verständnis für die enorme Bürde der Erdölimporte (80 Prozent des Konsums). Sie schien anzuerkennen, dass Indien seine bisher bescheidenen Öl- und Gaseinfuhren aus Russland erhöht und nach «Schnäppchen» Ausschau hält; umso mehr als Wladimir Putin dafür nicht einmal einen Ukraine-Persilschein einfordert, sondern sich mit Delhis «Neutralität» zufriedengibt.
Kleiner Peitschenknall
Dasselbe sagte auch Australiens Premierminister Morrison per Konferenzschaltung; Japans Premierminister Kishida sah es bei seinem Antrittsbesuch in Delhi ähnlich. Nur Präsident Biden nannte Indiens Haltung aus der Distanz «somewhat shaky», ein kleiner Peitschenknall nach so viel diplomatischer Empathie.
Der Zweck war aber derselbe: Über den Umweg der Vier-Staaten-Vereinigung (USA, Australien, Japan, Indien), des «Quad», und dessen antichinesischer Spitze soll Indien auch auf eine gemeinsame Anti-Russland-Position geschubst werden. Die Sprecherin des Aussenministeriums in Beijing fand dafür einen schnöden Vergleich: Was die Nato für Russland ist das Quad für China – eine Verschwörung des Westens.
Lackmus-Test
Am Freitag traf auch Aussenminister Wang Yi in Delhi ein. Der Besuch war nicht geplant, sondern kann als Abstecher Wangs bezeichnet werden, da er am Treffen der Organisation Islamischer Staaten in Islamabad teilnahm. Konkret ging es um die Vorbereitung des nächsten Gipfels der BRICS-Staaten, der in der zweiten Jahreshälfte in China stattfindet. Als gegenwärtiger Vorsitzender der Vereinigung möchte China möglichst alle Regierungs- oder Staatschefs nach Beijing bringen.
Falls der Ukraine-Krieg bis dann nicht beendet ist, wird das Treffen ein Lackmus-Test werden. Denn Wladimir Putin hat seine Teilnahme bereits angekündigt. Die drei weiteren Mitglieder (Brasilien, Indien und Südafrika) werden mit ihrem (Nicht-)Erscheinen also Farbe bekennen müssen. Am heikelsten wird es für den indischen Premierminister werden. Denn neben BRICS gibt es noch eine separate Vereinigung der drei asiatischen Mitglieder namens «RIC»: Russland, Indien, China. Üblicherweise treffen sich die drei am Rand des BRICS-Gipfels. Ein Dreier-Treffen von Modi, Putin und Xi würde die Welt aufhorchen lassen.
Eurasisches Imperium
Genau dieses Szenario dürfte aber manchem Bewohner dieser Länder das Herz höher schlagen lassen. Denn es vereinigt drei der vier Länder, die für Enthusiasten von Huntingtons «Clash of Civilizations» den Kern eines «eurasischen Bündnisses» darstellen. In den letzten Monaten hat die Erwähnung dieses Begriffs in den Sozialen Medien merklich zugenommen, und mit ihm auch der Name eines glühenden Verfechters dieser Idee, des russischen Politphilosophen Alexander Dugin.
Dugin gilt als Einflüsterer Putins, dem er die historische Mission zutraut, die drei Ideologien der Modernität – Liberalismus, Atlantizismus und Kommunismus – durch eine vierte zu überwinden, der Wiederherstellung eines eurasischen Imperiums, mit der Achse Deutschland-Russland-China und Nebenästen nach Indien und Iran.
Deutschland als Brückenkopf
Die These lässt aufhorchen, weil gemäss ihr die «Eingliederung» der Ukraine notwendig ist zur Anknüpfung an Deutschland (als gäbe es dazwischen kein Polen – ob es wohl zwischen den beiden wie 1939 aufgeteilt werden soll?). Deutschland ist für Dugin wichtig als terrestrischer Brückenkopf im Westen Europas, gegen die ehemaligen «maritimen» Imperien Frankreich, England und USA. Neben der Geografie liegt die zivilisatorische Grundlage des eurasischen Imperiums im religiösen Traditionalismus. Hier fühlt er sich wahlverwandt mit den Mullahs in Iran (wie ein kürzlicher Bericht im Journal21 darlegte) und dem religiösen Nationalismus der Hindutva-Ideologie Narendra Modis.
Im September 2019 lud Präsident Putin den indischen Premierminister als Ehrengast zum Eastern Economic Forum in Wladiwostok ein. Gleichzeitig meldete sich Alexander Dugin beim China-Korrespondenten der Tageszeitung «The Hindu» zu Wort. Das Treffen sei «ein Schritt zur Verwirklichung von Präsident Putins Vision einer multipolaren Welt, mit Indien und China als Russlands Ko-Partnern», gab er ihm zu Protokoll. «Putin versteht, dass Russland allein die Last nicht schultern kann, um der liberalen kapitalistischen Hegemonie entgegenzutreten (...) Herr Modi ist genau der Leader, den eine multipolare Welt braucht. Er ist das Symbol für Modernität ohne Verwestlichung. Er vertritt eine konservative Revolution in der indischen Politik, auf der Grundlage einer kulturellen und spirituellen Identität».
Trump, «Inkarnation der Göttin Kalki»
Eine weitere Fährte von Dugin zu Hindutva läuft interessanterweise über die amerikanische «AltRight»-Bewegung. Seine Bücher werden in den USA über die Plattform des rechtsextremen Arktos-Verlags vertrieben, dessen Leiter, John Morgan, zu den Gründern der AltRight-Bewegung gehört. Morgan hatte Arktos im Jahr 2008 in Indien gegründet. Er hatte dort «Erweckungserlebnisse» gehabt und bedient sich seitdem der Hindu-Mythologie, um den bevorstehenden Untergangs des «Liberalismus» und «Modernismus» vorauszusagen.
Laut ihm befinden wir uns im «Kali Yug», das in den Veden das letzte und dunkelste der vier planetarischen Zeitalter darstellt. In einem ausführlichen Essay über diese Verbindungen in der Zeitschrift «Caravan» vom Januar 2018 wird dem Ko-Gründer von AltRight, Richard Spencer, die prophetische Einsicht nachgesagt, Donald Trump werde als Inkarnation der Göttin Kalki die gegenwärtige hassenswerte Zivilisation zerstören und ein neues «Goldenes Zeitalter» einläuten.
Putin als Macho-Held gefeiert
Dank seiner Kontakte in Indien ist es Morgan offenbar gelungen, auch mit Politikern der BJP und deren ideologischen Kaderschmiede RSS Verbindungen zu pflegen. Er vermittelte etwa Kontakte zwischen diesen und reaktionären Parteien in Europa, etwa der neonazistischen «Jobbik» in Ungarn.
Es erstaunt daher nicht, dass sich Putin-Sympathisanten auch in Indien zu Wort melden. Während die Regierung sorgfältig darauf achtet, ihre Nähe zu Russland mit ökonomischen Zwängen zu begründen, reagieren die Sozialen Medien weniger diplomatisch. Dort wird Putin als Macho-Held gefeiert. Der Indian Express berichtete, am 6. März habe eine radikale Organisation namens «Hindu Sena» in Delhi eine Demonstration organisiert, in der Putins Invasion gefeiert wird, weil er damit «Gross-Russland» wiederherstelle.
Klumpfuss
Wie viele andere Gruppen ist auch die «Hindu Sena» eine marginale Formation, die mit radikalen Slogans auf sich aufmerksam machen will (ähnlich jener, die nach der Wahl Trumps zu dessen Ehre und Verehrung einen Tempel errichtet hatte). Im Vergleich zur weltweiten Vernetzung reaktionärer Organisationen im Westen gibt es in Indien keine nennenswerte politische Kraft mit einer ähnlichen Ideologie. Das hängt aber auch damit zusammen, dass solche Strömungen bisher im weitgespannten Netzwerk des RSS und seiner Ideologie eingebunden worden sind und je nach Grosswetterlage bedient werden.
Man kann sich auch fragen, ob Narendra Modi – und noch mehr Chinas Führung – dem Wunschbild Alexander Dugins nahekommen, wie es für ihn Wladimir Putin verkörpert. Nicht nur sind sich Indien und China spinnefeind. Sie wissen auch zwischen einer opportunistischen Allianz und einem «multipolaren Imperium» zu unterscheiden. Und sie sind wohl auch klarsichtig genug zu erkennen, dass territoriale Grösse nicht nur ein Asset darstellt, sondern auch zum Klumpfuss werden kann.