Die Werke des Engländers David Hockney (*1937) gefallen durch ihre Erzähl- und Lebensfreude und ihre bunte Farbigkeit. Der Künstler betreibt aber auch ein virtuoses Spiel mit Raumempfinden und mit dem Aufbrechen der Perspektive.
Nein, «A Bigger Splash» von 1967 ist nicht in der Ausstellung. Es ist wohl das berühmteste Bild David Hockneys – ein Mann ist eben in den tiefblauen Swimming Pool gesprungen –, tausendfach reproduziert und im Shop der Tate in London in allen Souvenir-Variationen zu haben. Fast alle kennen die Inkunabel des British Pop, die einen Traum vom allzu schönen Leben unter heiterem Sonnenschein paraphrasiert.
Verständlich, dass die Tate, wo das Bild sich befindet, das Werk ihren Besucherinnen und Besuchern nicht vorenthalten will und nicht nach Luzern reisen liess. Ebenso mag gelten: Dass man dem «Bigger Splash» in Luzern nicht begegnet, mindert die Qualitäten der Ausstellung nicht, denn Hockney hat das Thema des in harten Konturen mit glasklarer Komposition und ebenso klarer Farbigkeit gemalten Swimming Pools mit den unvermeidlichen Palmen unter dem gleissenden Licht Kaliforniens oft variiert – mit oder ohne Menschen, ohne, weil sie eben ins Wasser gesprungen und untergetaucht sind, mit, weil die athletisch-jugendlichen Männer gerade zum Sprung ansetzen. Zwei Varianten sind in Luzern zu sehen.
«Moving Focus»
Vor allem darf «A Bigger Splash» fehlen, weil die Luzerner Ausstellung, die grossmehrheitlich aus den Tate-Beständen alimentiert ist und von Helen Little von der Tate mitkuratiert wurde, nicht auf diese berühmtesten Werke des Künstlers fokussiert ist, sondern Hockney in der ganzen Breite seines innerhalb von rund sechs Jahrzenten entstandenen Werkes vorstellen will. «David Hockney – Moving Focus», so der Titel der Schau, möchte ein grosses, auch touristisches Publikum ins Museum locken, was Hockneys eigenen Intentionen sehr entgegenkommt: Museumsdirektorin Fanni Fetzer wartet – nach der Turner-Schau 2019 – wieder mit einem Künstler mit Kult-Status auf, doch die Ausstellung leuchtet mit zahlreichen Werken, die nicht schon alle kennen, auch hinter die Hochglanz-Fassade. Zu Recht, denn diese Hochglanzwelt steht wohl für die Berühmtheit des Künstlers, macht aber nicht den «ganzen Hockney» aus.
«Moving Focus»: Für die Kuratorinnen ist der Ausstellungstitel, der auch der Titel einer Bilder-Serie Hockneys ist, eine Art Metapher für Lebenswerk und Person des Künstlers, der ständig in Bewegung war und ist, der manche künstlerische Wandlung durchlebte und teils auch zeitgleich ganz unterschiedliche Kunstsprachen pflegte. In Bewegung hält ihn auch der Gebrauch verschiedener Medien wie traditionelle Öl- oder Acrylmalerei, Zeichnung oder Druckgrafik wie Litho oder Radierung sowie Installation und schliesslich Bühnenbilder für grosse Opernhäuser. In jüngster Zeit experimentierte er mit buntfarbigen animierten IPad-Zeichnungen auf Bildschirm oder mit «fotografischen Zeichnungen», in denen er collageartig Fotos eigener und fremder Werke zu grossen Ensembles zusammenfügte.
Überraschend ist die Begegnung mit wenig bekannten gestischen Malereien des 23-Jährigen, die trotz allgegenwärtiger amerikanischer Informel-Malerei figurativ bleiben, sich anfänglich aber meist einer klaren und eindeutigen inhaltlichen Entschlüsselung verweigern und sich mit kryptischen, teils auch verbalen Andeutungen begnügen. Da geht es oft um Hockneys eigene homosexuelle Befindlichkeit. In diesen auch autobiographischen Zusammenhang gehört auch die Grafik-Serie «A Rake’s Progress», entstanden zu Beginn der 1960er Jahre in den USA. Sie variiert die gleichnamige Reihe von William Hogarth (1697–1764) über den Gang eines hochstaplerischen Lebemenschen in das Getümmel der Grossstadt. In den Swimming-Pool-Bildern – den bekanntesten Werken des Künstlers – und in den von sensibel-poetischen Linien lebenden, geradezu klassisch anmutenden Radierungen von 1966 zu Gedichten des griechischen Lyrikers Konstantinos Kavafis tritt das eigene homosexuelle Empfinden klar und deutlich zutage.
«My Parents»
Hockneys Einfühlung bezeugen auch die grossformatigen Ganzfiguren-Portraits von ihm nahestehenden Menschen. So fand auch «My Parents» von 1977 den Weg in die Luzerner Ausstellung, eines der Meisterwerke des 40-jährigen Künstlers. Das weitgehend von lichten Grüntönen lebende Bild zeigt präzise und In beinahe fotorealistischer Manier das auf Klappstühlen sitzende, betont bürgerlich gekleidete betagte Ehepaar in gepflegtem, ebenfalls zeitgemäss bürgerlichem Interieur. (Hockney selber pochte allerdings auf seine Herkunft aus einer «radikalen Arbeiterfamilie».)
Die Mutter blickt dem Maler – und damit uns – mit wachen Augen direkt entgegen. Der Vater beugt sich über eine Zeitschrift. Auf einem Rollkorpus stehen ein Tulpenstrauss und ein Spiegel. Auf dem untern Regal liegt ein Buch mit dem Namen des französischen Malers Siméon Chardin auf dem Buchrücken. Ein Hinweis auf kulturelle Interessen seines Vaters? Oder eine angedeutete Geste der Verehrung für einen der Grossen der französischen Stilllebenmalerei des 18. Jahrhunderts, der sich in seinen Bildern auch Menschen bei gewöhnlichen Alltagsverrichtungen zuwandte?
Das wäre verständlich: Das Doppelporträt strahlt eine grosse Ruhe und Abgeklärtheit aus, was auch Chardins Malereien auszeichnet, und es ist, ebenfalls eine Eigenart Chardins, nach klug überlegten klassischen Prinzipien komponiert, was zum Beispiel den Lichteinfall von oben links und die räumliche Wirkung der Position der Eltern betrifft. «My Parents» deutet auch auf weitere Eigenarten von Hockneys Herkommen und seine Kunst, denn der Spiegel zeigt, dass in der Stube der Eltern Bilder hingen – eine Reproduktion von Piero della Francescas «Taufe Christi» aus der Londoner Nationalgalerie sowie eine Malerei (einen grünen Vorhang darstellend) von David Hockney selber. Offenbar war die «radikale Arbeiterfamilie» kultiviert, und offenbar schätzten die Eltern die künstlerische Arbeit ihres 40-jährigen berühmten Sohnes.
Blicke in die Kunstgeschichte
Das Chardin-Buch zeigt auch: David Hockney ist mit der Geschichte der Malerei vertraut. Er kennt sich aus und hat seine Lieblingsbilder und Lieblingsmeister. Auf einem Werk – «In the Studio» von 2017, einer riesigen «Fotozeichnung», die ihn selber in bunter Strickjacke in seinem Atelier zeigt – hängen Werke Fra Angelicos oder Meindert Hobbemas neben vielen eigenen Werken an den Atelierwänden. Manches in Hockneys Malereien erinnert an seine intensiven Picasso-Erlebnisse oder an die leuchtende Farbigkeit vieler Matisse-Gemälde. Er reagierte auf die unbekümmerte Farbenfreude, die sich an den Werken von Matisse manifestiert.
An Picassos Werken scheinen ihn das das Aufbrechen des Raumes oder das Zertrennen und neue Zusammenfügen des menschlichen Körpers zu faszinieren. Vor allem im Umgang mit dem Raum kommt er Picasso nahe, und es scheint, als erfinde er für sich die Perspektive neu: Da gewinnt das Thema – oder besser das Ausstellungsmotto des «Moving Focus» an Bedeutung. Der Ausstellungskatalog druckt einen aufschlussreichen Brief Hockneys von 1984 an Tate-Kurator Richard Morphet ab, in dem sich der Künstler eingehend zum Problem der perspektivischen Wahrnehmung, zu chinesischen Rollbildern (die kommen ohne die europäische Zentralperspektive aus) und zur Fotografie und zum «naiven Glauben, dass sie die objektive Wirklichkeit wiedergibt», äussert.
Die Überraschung
Die grösste Überraschung der Luzerner Hockney-Ausstellung sind sicher die beiden vielteiligen Riesen-Formate «Bigger Trees near Warter» (50-teilig, 2007, Tate) und «The Arrival of Spring in Woldgate, East Yorkshire in 2011» (32-teilig, 2017, Centre Pompidou). Sie sind wandfüllend. Das Museum hat, um sie in einem Saal an gegenüberliegenden Wänden präsentieren und zu bester Wirkung bringen zu können, eigens eine Wand entfernt. Man fühlt sich als Besucher mitten in ein sinnlich-intensives und wohl auch beglückendes Landschaftserlebnis versetzt. Ein Verweilen in diesem Raum schärft das Auge für das Wahrnehmen der Stilisierung der Natur und der ausgeklügelt differenzierten Farbigkeit von Hockneys Naturschilderung.
Der «Superstar» im Provinzmuseum
Das Kunstmuseum Luzern wartet diesen Sommer mit einem der «Superstars» der englischen Kunst auf. Das Unternehmen fordert das Haus finanziell und administrativ in hohem Mass. Sind diese Sonderanstrengungen sinnvoll für ein – im internationalen Vergleich gesehen – kleines Provinzmuseum? Kann sich das rechnen? Wie lässt sich das überhaupt bewerkstelligen?
Prestigedenken, das Ringen um Aufmerksamkeit und die Positionierung des eigenen Hauses innerhalb der landesweiten Museumslandschaft spielen sicher mit, wenn sich ein Museum für «Highlights» wie Hockney entscheidet. Möglich wurde «David Hockney – Moving Focus» aber zweifellos dank der guten Beziehungen von Museumsdirektorin Fanni Fetzer zur Tate Gallery in London und dank vieler Sponsoren. Schon die Ausstellung «William Turner – Das Meer und die Alpen» (2019) basierte weitgehend auf Tate-Leihgaben. Im Turner-Jahr zog das Kunstmuseum über 100’000 Besucherinnen und Besucher an gegenüber rund 30’000 in einem «normalen» Jahr. Die Museumsverantwortlichen sind aber realistisch. Sie wissen, dass sich diese Zahlen nur schwer wiederholen lassen und rechnen für Hockney in etwa mit der Hälfte der Turner-Besucher.
Besucherrekorde sind allerdings kein Gradmesser für die Qualität eines Museums, aber sie überzeugen als messbare Grössen geldgebende Politiker viel eher als die nur schwer messbaren Qualitäten einer Ausstellung oder gar des Ausstellungsbesuches. Und auf Politiker-Goodwill glauben die Museen mit ihrer teuren Infrastruktur heute angewiesen zu sein – auch im Hinblick auf die Versicherungskosten, die unmittelbar zusammenhängen mit den oft unsinnigen Preisen, die Werke bekannter Künstler auf dem Kunstmarkt erzielen. (2018 soll ein bedeutendes Gemälde Hockneys auf einer Auktion 80 Millionen Dollars erzielt haben.)
Nicht nur «Kult»
Wichtiger als Zahlen oder Prestigedenken ist: David Hockney ist nicht einfach «Kult», berühmt und Lieferant für beliebte Ausstellungs-Souvenirs. Er erweist sich in der Luzerner Präsentation seines Werkes auch tatsächlich als grosser Künstler, dessen Schaffen einem grossen Publikum vor allem über Abbildungen einiger berühmter Werke in Büchern und Katalogen vertraut sein mag. Die Qualitäten der Werke erschliessen sich aber, allein schon wegen der Dimensionen einiger Bilder, erst in der Begegnung mit den Originalen. Luzern ist ausserdem die erste Schweizer Institution, die Hockney eine Retrospektive widmet. Es wählt für seine Sommer-Ausstellung, unbekümmert vielleicht, das bewährte Modell der rein monographischen Schau und verzichtet auf einen Einbezug des Umfeldes, in dem dieses Werk entstanden ist. Es bereitet aber seinen Besucherinnen und Besuchern – um es überspitzt zu formulieren – nicht nur, aber vor allem ein Sommerfest der Farben- und Lebensfreude. Auch das ist in tristen Zeiten willkommen.
Erwähnung verdient auch der Katalog, den die Ko-Kuratorin Helen Little konzipiert hat. Er vereinigt zahlreiche auch kurze Texte von Spezialistinnen und Spezialisten zu einzelnen Aspekten von Hockneys Schaffen. Darunter finden sich prominente Namen wie Frank Gehry, Allen Jones, Ed Rucha, Wayne Salep oder Reineke Dijkstra, ferner zwei Schweizer Autorinnen und ein Schweizer Autor: Fanny Fetzer, die Malerin Christine Streuli und der Fotograf Walter Pfeiffer.
Kunstmuseum Luzern: «David Hockney – Moving Focus». Bis 30. Oktober.