„Philosophy is garbage, but the history of garbage is scholarship“ – „Philosophie ist Müll, aber die Geschichte des Mülls ist Wissenschaft.“ Das böse Verdikt wird ausgerechnet einem Philosophen zugeschrieben, nämlich Burton Dreben von der Harvard University. Graue Eminenz der analytischen Philosophie, ein unbarmherziger Strengdenker, der in der herkömmlichen philosophischen Praxis kaum mehr als ein Aneinander-vorbei-Reden erkennen konnte oder wollte. Deshalb richtete Dreben seinen professionellen Ehrgeiz darauf, als akademischer Müllmann der Philosophie zu walten; in der einzigen Art, die ihr wissenschaftlich gebührt.
Vom vermeintlichen „Tod“ der Philosophie
Das mag durchaus seine Rechtfertigung und seinen Reiz haben. Nur wird überall aneinander vorbeigeredet, gerade auch in den Wissenschaften. Als definitiv fragwürdig erweist sich die Müllmetapher, wenn sich Vertreter der „harten“ Disziplinen – heute vor allem Physiker, Computerwissenschafter, Mikro- und Neurobiologen – nun in die Aufräumerpose werfen, indem sie das, was sie nicht gelesen oder verstanden haben, in den Mülleimer schmeissen.
Stephen Hawking erklärte 2010 in seinem Buch „Das grosse Design“ die Philosophie für tot, weil sie nichts zum Fortschritt der Wissenschaften beigetragen habe. Das ist nun seinerseits starker philosophischer Tobak: Wer sagt denn, es sei die Aufgabe der Philosophie, zum wissenschaftlichen Fortschritt beizutragen? Und ein anderer vorlauter Physiker, Lawrence Krauss, übt sich wacker im Bashing von Wissenschaftsphilosophie: „Die einzigen, die Arbeiten von Wissenschaftsphilosophen lesen, sind Wissenschaftsphilosophen.“ Mit dieser billigen Polemik hat sich Krauss gleich selbst aus dem Kreis ernstzunehmender Diskutanten gezogen. Die einzigen, die Arbeiten in theoretischer Physik lesen, sind in der Regel theoretische Physiker.
Halbgebildete Bildung
Solche albernen Sticheleien mal beiseite: Stellungnahmen dieser Art akzentuieren nur das verbreitete stillschweigende Vorurteil, mit einer Ausbildung in zeitgemässen „hard sciences“ – also in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) – über das angemessene intellektuelle Rüstzeug für das Verständnis und die Bewältigung der Gegenwartsprobleme zu verfügen. Die Ironie dabei ist, dass genau eine solche Haltung mit zu den Gegenwartsproblemen gehört. Ich bringe sie auf die Formel: Halbgebildete Bildung. Viel Gewicht auf MINT-Fächern, wenig Gewicht auf Philosophie und Geschichte.
Zur Illustration eine Anekdote des Wissenschaftshistorikers Steven Shapin. Ein Herzchirurg gedenkt nach der Pensionierung eine Geschichte seines Fachs zu schreiben. Er bittet eine befreundete Historikerin, ihm beratend beizustehen. Sie erwidert: Nur wenn du mich zuerst eine Herzoperation durchführen lässt. Natürlich weiss die Historikerin um ihre chirurgische Inkompetenz. Aber mit ihrer Riposte reklamiert sie klar ein Gleichgewicht in der professionellen Einschätzung. Der Chirurg kann in der Historiographie ebenso stümpern wie die Historikerin in der Chirurgie.
Ungeschichtsschreibung
Hier ein aktuelles Beispiel. In einem Interview vom 1. September 2017 äusserte sich der Präsident der ETH, Lino Guzzella, folgendermassen über Big Data: „Wenn wir heute von Big Data reden, dann ist das eine Situation, die die Menschheit immer schon kannte. Es gab Menschen wie Aristoteles, der nachdachte, Tycho Brahe, der Daten über die Sterne sammelte, Johannes Kepler, der diese Daten zu Informationen verdichtete, Galileo Galilei betrieb zeitgleich systematisch Wissenschaft, und Isaac Newton war das Genie, das dann in seinem Gravitationsgesetz alles zusammenfasste.“
Guzzella führt exemplarisch vor, was man Ungeschichtsschreibung nennen könnte – eine unter Naturwissenschaftern verbreitete Praxis. Man wirft vom Standpunkt der Gegenwart ein Licht auf die Vergangenheit und beleuchtet nur das, was zu dieser Gegenwart führt. Dadurch erweckt man den Eindruck, dass schon früher auf diese Gegenwart hingearbeitet worden ist. Dann entpuppen sich Aristoteles, Kepler, Brahe, Galilei und Newton unversehens als Datenwissenschafter, Vorläufer von Big Data.
Solcherart zeichnet man nicht nur ein äusserst schiefes Geschichtsbild, indem Forscher aus unterschiedlichsten Kulturen, Zeiten und Denktraditionen in einen Topf geworfen werden. Man präsentiert dem Laien auch ein irreführendes Bild wissenschaftlichen Vorgehens: „Die Menschheit hat diese Schritte schon immer getan: Man hat die Natur beobachtet, grosse Datenmengen gesammelt, interpoliert und schliesslich extrapoliert. Den Schritt von Daten zur Information, zur Einsicht, zur Anwendung und zum Wert macht die Menschheit auch heute. Es geht nur sehr viel schneller.“ – Nur schon ein kursorischer Blick in die Geschichtsbücher hätte Herrn Guzzella darüber informiert, dass keiner der von ihm genannten Forscher so vom Datensammeln „aufgestiegen“ ist, sondern sich vielmehr von philosophischen, ja theologischen Fragen hat leiten lassen.
Nonchalance gegenüber „weichen“ Wissenschaften
Dieser Nonchalance gegenüber „weichen“ Wissenschaften begegnet man auf Schritt und Tritt. Sie nimmt heutzutage gerne agressivere Züge an, indem etwa Biologie oder kognitive Wissenschaften in Territorien einfallen, die vordem als Domäne der Geisteswissenschaften galten: Kunst, Moral, Religion, Politik.
Zwar spricht nichts a priori gegen ein Studium dieser Phänomene aus evolutions- und neurobiologischer Perspektive. Warum sollte uns eine Kombination aus Evolutionstheorie und Kognitionstheorie zum Beispiel nicht Aufschluss über die Frage geben, wie unter unseren Ahnen so etwas wie eine Gottesvorstellung entstanden ist? Meist aber meldet sich unterschwellig ein stärkerer Anspruch, nämlich mit dem naturwissenschaftlichen Studium auch alles gesagt zu haben.
So möchte etwa der Neurowissenschafter und populäre Autor Sam Harris den alten Zopf philosophischer Debatten über Moral durch wissenschaftliche Studien über die neuronale Basis von Moral abschneiden. Das Problem ist nur, dass er in seinem radikalistischen wissenschaftlichen Eifer vergisst, die Frage zu stellen, wie man denn von neurophysiologischen Ereignissen auf moralische Gebote schliesse.
Lizenz zum geisteswissenschaftlichen Dilettieren
Hier muss man sich fundamentalen Fragen stellen, zum Beispiel denen nach den Grenzen exakter Modellbildung. Auch gilt es der Verführung durch Metaphern wie „Das Gehirn ist ein Computer“ zu widerstehen, die Überspanntheit von Erkenntnisansprüchen wie „Die Evolution erklärt moralisches Verhalten“ zu durchschauen und leere Versprechen wie „Durch Digitalisierung lösen wir die Aporien des Gesundheitswesens“ zu vermeiden.
In allen derartigen Thesen stecken eminent philosophische Probleme. Wie der Ingenieur für den Maschinenbau Differentialgleichungen lösen können muss, verlangt der Umgang mit solchen Fragen eine entsprechende philosophische Sorgfalt. Sorgfalt bedeutet Respekt vor der Sache. Die Nonchalance im Umgang mit Geschichtsschreibung scheint mir symptomatisch für eine implizite und institutionalisierte Respektlosigkeit zu sein, wie man sie in „harten“ Disziplinen nicht selten antrifft. Der naturwissenschaftliche Ausweis gilt auch gleich als Lizenz geisteswissenschaftlichen Dilettierens.
Natürlich gibt es Köpfe, die auf beiden Gebieten Hervorragendes geleistet haben: Ernst Mach, Bertrand Russell, Julian Huxley, Albert Einstein, Erwin Schrödinger, Erwin Chargaff, um nur ein paar zu nennen. Aber eine noch so vollständige Liste von Lichtgestalten kann den düsteren Eindruck nicht zerstreuen: Die naturwissenschaftliche Ausbildung wird von geisteswissenschaftlicher Halbbildung begleitet.
Lasst hundert Wissensquellen sprudeln!
Ich spreche wohlgemerkt von einer Aufgabe naturwissenschaftlicher Bildung, nicht geisteswissenschaftlicher. Dabei möchte ich die zahlreichen Bemühungen um eine Vermittlung zwischen beiden nicht schmälern. Im gleichen Zug aber, in dem man bei den Naturwissenschaften ein Defizit an historischem und philosophischem Bewusstsein konstatiert, sollte man sich bewusst werden, dass dieser Mangel Symptom eines tieferen Problems ist, eines allgegenwärtigen Rattenrennens auch im Bildungswesen.
Die naturwissenschaftliche Bildung gerät in den ökonomischen Tunnelblick, mit der lockenden Aussicht auf Qualitätsjobs, Start-ups, Arbeitsmarktplatzierung, Standortvorteil. Es zählt das wirtschaftlich Verwertbare, ohne dass man noch nach dem Sinn dieses Werts fragen würde: Das erkenntnissuchende Unternehmen Wissenschaft findet seine „Aufhebung“ im wirtschaftlichen Unternehmen.
Beim permanenten Palaver über die „Ressource Wissenschaft“ wäre gelegentlich daran zu denken, dass der wissenschaftliche Geist seine Dehydratation riskiert, wenn man ihn eindimensional pflegt. Er braucht Nährstoffe aus vielen Quellen. Deshalb: Lasst hundert Wissensquellen sprudeln! Das könnte Motto für ein forschungspolitisches Programm sein. Die Schweiz brächte dazu die besten Bedingungen mit.