Wenige Tage nach dem Tod der iranischen Kurdin Mahsa Amini (16. September 2022 – sie starb «im Gewahrsam» der islamischen Sittenwächter in Teheran, weil sie ihr Kopftuch, den Hijab, nicht ordnungsmässig trug) begannen im Westen (auch in der Schweiz) die Kundgebungen und Proteste. Haben diese Kundgebungen etwas bewirkt? Versuch einer Bilanz ein Jahr später.
Zehntausende Iranerinnen und Iraner im Exil solidarisierten sich mit den vom iranischen Regime mittels Kopftuch-Tyrannei drangsalierten Frauen, und zehntausende Europäerinnen bekundeten ihr Engagement zugunsten von Iranerinnen. Westliche Regierungen und NGOs äusserten Kritik am Regime Irans, TV-Diskussionsrunden widmeten sich intensiv dem Thema, Deutsche, Schweizerinnen (u.a. Nationalrätin Flavia Wasserfallen) schnitten sich, zugunsten der iranischen Frauen, die Locken ab.
Was hat das den Frauen in Iran gebracht? Hat es die revolutionäre Stimmung verstärkt? Und hat es die Regierenden, die (fast) alles beherrschenden islamischen Rechtsgelehrten dazu gebracht, ihre eisernen Prinzipien zu revidieren?
Westliche Verschwörung?
Die Antwort fällt widersprüchlich aus: Viele Iranerinnen fühlen sich durch die Solidarität (insbesondere jener von Angehörigen oder Bekannten, die jetzt im Westen leben, also von der Seite einer Diaspora, die mindestens fünf Millionen Menschen umfasst) bestärkt im Widerstand gegen die Schikanen des Regimes. Die Herrschenden anderseits werden nicht müde zu behaupten, diese vielen Demos im westlichen Ausland seien der Beweis, dass die Proteste der Frauen in Iran von aussen gesteuert würden. Kurz: Alles Resultat einer westlichen Verschwörung. Und dagegen müssten sie, die Verantwortungsträger, konsequent vorgehen.
Die Iranerinnen riskieren viel: Sie Sittenpolizei ist re-aktiviert worden, in einigen Städten wurden an belebten Plätzen und auch in öffentlichen Verkehrsmitteln Überwachungskameras installiert, die kopftuchfreie Frauen bildlich erfassen sollen. Dennoch wagen sich mehr und mehr Frauen ohne Kopftuch in die Öffentlichkeit, das beweisen Aufnahmen, die in grosser Zahl via social media den Weg ins Ausland finden. Was die Folgen für die «Gesetzesübertreterinnen» sein können, ist unklar, oder besser, es obliegt offenkundig der Willkür irgendeiner Instanz. Einzelne Frauen werden festgenommen, einige auch verurteilt, aber ein System scheint es nicht zu geben. Was offenkundig dazu führt, dass sich bei hunderttausenden Frauen, insbesondere in den Grossstädten, die Meinung durchsetzt: Das Risiko, in der Öffentlichkeit ohne Kopftuch «erwischt» und allenfalls auch bestraft zu werden, ist statistisch klein. Und je mehr wir sind, die sich der Vorschrift widersetzen, desto geringer ist die Möglichkeit der Gegenseite, aktiv zu werden, lautet wohl der nicht abgesprochene Konsens.
Verlieren die Sittenwächter bald die Übersicht?
Aufgrund persönlicher Iran-Erfahrung wage ich zu schlussfolgern: Die jetzigen «Rebellinnen» gehen davon aus, dass das Regime unfähig wird zu konsequentem Vorgehen, wenn ihre Bewegung so breitflächig wird, dass die Sittenwächter die Übersicht verlieren.
So war es ja, vor Jahren, beispielsweise beim obrigkeitlichen Verbot von Satellitenschüsseln. Ein solches Verbot gibt es zwar, aber kaum jemand hält sich daran – in allen Städten hängen die Geräte auf, geschätzt, jedem zweiten Balkon herum. Wollte das Regime sich durchsetzen, müsste es fast aus jedem Haushalt mindestens eine Person in Gewahrsam nehmen, flächendeckend also Millionen. Resultat: Bisweilen, willkürlich, treten zwar jugendliche Pro-Regime-Eiferer in Aktion und konfiszieren einige Schüsseln, aber das sind Ausnahmen. Die Opfer nehmen so etwas gelassen – sie wissen, wann und wo sie wen kontaktieren müssen, um die Satellitenschüssel wieder zu bekommen. Das kostet dann immer etwas Schmiergeld, aber auch das ist bekannt. Es gibt, mit anderen Worten, Verordnungen oder sogar Gesetze, aber es gibt parallel dazu eine Realität.
Beide Seiten haben sich arrangiert
Manchmal ist sie noch banaler: In Teheran wurde einmal für die öffentlichen Parks ein Verbot für Hunde erlassen. Nun haben aber in der 13-Millionen-Stadt recht viele Menschen Hunde, als Schutz vor Einbrechern. Die Obrigkeit erkannte schnell, dass sie nicht einfach all die Hunde konfiszieren kann – also beliess sie es bei der Verordnung, beachtet sie aber im Alltag nicht oder nur selten.
Bei Iranern zirkuliert dazu die «Formel»: Wir haben erkannt, dass wir «die da oben» nicht los werden, die Herrschenden anderseits mussten erkennen, dass sie ihr Volk nicht los werden. So haben sich die beiden Seiten miteinander arrangiert.
Warum der Zoff um ein Stückchen Stoff?
Aber was den Kopftuch- oder Hijab-Konflikt in der jetzigen Zeit betrifft, sieht das möglicherweise doch anders aus. Das Regime ist, weil immer stärker unter Druck, härter geworden. Vielleicht werden die Sittenwächter doch wieder aktiver, gehen rigoroser und systematischer gegen die «Rebellinnen» vor – doch sehr viele Frauen in Iran sind offenkundig bereit, dieses Risiko einzugehen, in der Erwartung, dass sich für ihren Alltag irgendwann etwas Wesentliches ändern würde – müsse.
Weshalb aber hat sich das Regime in das Stückchen Stoff auf dem Kopf iranischer Frauen derart in den Konflikt verbissen? Und weshalb sind, auf der Gegenseite, so viele Iranerinnen bereit, für den Kampf gegen das Tüchlein so viel zu riskieren?
Ausdruck der Macht des Männlichen
Es gibt, in übertragenem Sinn, einen äusseren Hijab und einen inneren. Der äussere ist das Kopftuch, mit dem die Frau die Haare verhüllen soll (weil der Anblick der weiblichen Haarpracht die Männer angeblich rasend macht …). Millionen Iranerinnen verstehen es, das Foulard so modisch zu tragen, dass es wie ein neckisches Accessoire wirkt. Was ich den inneren Hijab nenne, hat aber mit Modebewusstsein nichts zu tun: Das ist der Ausdruck der Macht des Männlichen über das Weibliche.
Die islamischen Rechtsgelehrten in Iran sagen den Frauen mit dem Hijab-Befehl: Ihr seid dem Mann Gehorsam schuldig, es gibt in den koranischen Texten keinen Hinweis auf Gleichberechtigung. Zwar gibt es in einem Hadith (das sind Texte, die Handlungen und Aussagen des Propheten schildern) einen Satz, der besagt: Mann und Frau sind gleich gestellt – der Nachsatz aber lautet, dass das für das Jenseits gilt, nicht jedoch «hienieden».
Gleichberechtigung ist nicht vorgesehen
Natalie Amiri, iranisch-deutsche Journalistin mit jahrelanger Erfahrung als Korrespondentin in Iran, schreibt in ihrem Buch «Zwischen den Welten – von Macht und Ohnmacht in Iran»: „Frauen sind in fast allen Lebensbereichen durch das islamische Rechtssystem – die Scharia – systematisch entrechtet und stark benachteiligt. Das ist so gewollt. Das islamische Recht wird ausschliesslich von männlichen Geistlichen bestimmt. Eine Gleichberechtigung ist nicht vorgesehen.»
Weiter schreibt Natalie Amiri: «Wahlrecht haben sie zwar behalten, dennoch ist es ein täglicher Kampf, den die Frauen im Iran führen, um sich zu behaupten. Sie sind zäh und willensstark. Der Anteil der Studentinnen liegt höher als die der Studenten, bei ungefähr 60 Prozent.» Aber gute Bildung bedeutet für Frauen in Iran nicht gute Chancen im Beruf – was Amiri so kommentiert: «Studieren ist schick, doch eine arbeitende Frau, emanzipiert und selbständig, ist zu viel für das konservative religiöse System.»
Der Wandel muss von innen kommen
Mit der Verweigerung des Kopftuchs, des Hijab, stellen die iranischen Frauen dieses ganze System in Frage. Den «Würdenträgern» der Islamischen Republik ist das offenkundig bewusst – verlieren sie diesen Kampf, ist ihre Macht gefährdet. Dann besteht das Risiko, dass ein Baustein ihrer Pyramide nach dem anderen ins Wanken gerät. Und das wollen sie, sei der Gewalt-Preis noch so hoch, vermeiden.
Ob und allenfalls in welchem Mass die Solidarität von Frauen im Westen dem Kampf der Iranerinnen gegen das «System» geholfen hat, ist, wie erwähnt, umstritten. Generell zeigt die Erfahrung: Der Wandel muss von innen kommen. So war das bei der Erosion der Sowjet-Herrschaft über die Länder im östlichen Mitteleuropa, so war es auch, um ein weiteres Beispiel zu nennen, in Südafrika beim Ende von Apartheid. Das gilt, wahrscheinlich, auch für Iran.