Wie lebt man mit Krise und Provisorium nach dem Bergsturz in Bondo? Anna Giacometti, Gemeindepräsidentin von Bregaglia sieht wenig Angst: „Als Bewohner eines Bergtals wissen die Leute hier, dass solche Ereignisse geschehen können. Aber ich bin beeindruckt von der Ruhe und Geduld, welche die Bewohner gezeigt haben.“
Zwei Monate sind seit dem grossen Bergsturz am 23. August 2017 vergangen, als ein erster Murgang bis in den Talboden von Bondo vordrang. Dank Hilfe von aussen und dem grossen Zusammenhalt der Bewohner haben die kleinen Ortschaften Bondo, Spino und Sottoponte die ersten 60 Tage der Krise gut gemeistert. Mitte Oktober traf man sich auf dem Platz vor der Gemeinde, um bei gerösteten Kastanien und einem Glas Wein ein paar Worte auszutauschen. Aber natürlich findet dieses Jahr kein traditionelles Kastanienfest statt.
4 Mio. Kubikmeter Fels und Schlamm
Die Aufräumarbeiten gehen auch dank des schönen Herbstwetters gut voran, aber man ist immer noch mit etwa 100 Personen intensiv daran, die enormen Schlamm- und Felsmassen wegzuräumen.
Der Bergeller Bergsturz ist einer der grössten der letzten 100 Jahre. Vom Piz Cengalo im Val Bondasca lösten sich circa 4 Mio. Kubikmeter Felsmassen und stürzten als Murgang bis in den Talboden. Der Ort Bondo, die Umgebung und die Kantonsstrasse zwischen Chiavenna/Italien und dem Malojapass wurden dabei schwer getroffen. Acht Personen (Wanderer aus der Schweiz, Deutschland, Österreich) sind beim Unglück im Val Bondasca ums Leben gekommen. Am 1. September wurde bei einem zweiten Murgang das eben geleerte Rückhaltebecken wieder aufgefüllt.
Diese Riesenmenge an Kubikmetern Gestein, Geröll und Schlamm ist sogar für die Schweizer Alpen ungewöhnlich, wo man eher gewohnt ist, trotz Felsstürzen zu leben. Man rechnet, dass etwa vier Millionen Kubikmeter Gesteinsmaterial im Bergell bei Bondo zu Tal stürzten. Eine weitere Million Kubikmeter soll an der Grenze zu Italien, am Piz Cengalo, noch abrutschen können.
Erste Bewohner wieder in ihren Häusern
Die intensive Aufräumarbeit der letzten zwei Monate ist nun sichtbar. Das Rückhaltebecken für Murgänge und das Flussbett der Maira sind praktisch leergeräumt. Im Moment arbeitet die Gemeinde an der provisorischen Verstärkung von Schutzdämmen. Ein Teil der Bevölkerung konnte Mitte Oktober wieder zurück in ihre Häuser, aber nur in der „Zone grün“. Das hebt die Stimmung aller Bewohner im Bergell.
Noch sind gut 80 Personen evakuiert. Nach der grünen Zone von Bondo werden Spino und Sottoponte am anderen Ufer der Maira wieder bewohnbar gemacht und dann folgen die orange, rote und blaue Zone von Bondo. Wann die Evakuierten zurückkehren können, hängt vom Zustand der Infrastruktur für Strom, Wasser und Abwasser und bei den beschädigten Häusern von der Schwere der Schäden ab.
Grosse Medienpräsenz im Dorf
Die Kommunikation mit den Betroffenen ist ein zentraler Teil der Krisenbewältigung in der Gemeinde Bregaglia. Die Massenmedien haben deshalb vom ersten Tag an eine wichtige Rolle gespielt. Über sie konnte man die Bewohner auch dann erreichen, als sie plötzlich über das ganze Tal verteilt wohnten.
Das Medienecho war riesig. Am 1. September, dem Tag nach dem letzten grossen Murgang, hat der Kommunikationsverantwortliche Christian Gartmann rund 250 Medienanfragen beantwortet. In dieser Phase konnte er uns den Rücken freihalten und gleichzeitig dafür sorgen, dass alle Medien zu ihren Informationen kamen. Die aktive Medienarbeit hat sich laut Gemeindepräsidentin sehr bewährt.
100 Personen täglich im Einsatz
„An erster Stelle stehen unsere Bewohner“, betont Gemeindepräsidentin Giacometti. „Alles, was wir tun, hat das Ziel, ihnen wieder ein möglichst normales und gutes Leben zu ermöglichen.“ Dabei hat die Rückkehr in die Wohnungen erste Priorität. Dann wird die Gemeinde auch weiter daran arbeiten, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen für Private und Unternehmen abgefedert werden. Im Einsatz stehen Mitarbeiter der Gemeinde, Zivilschutz, Militär, kantonale Stellen und zahlreiche Unternehmen. Alles in allem sind es jeden Tag rund 100 Personen.
Die Armee hat fast zwei Monate nach dem Bergsturz in Bondo eine provisorische Brücke erstellt. Nun hat der Ort wieder eine sichere Verbindung zur Umgebung. Die Hauptstrasse soll Ende November wieder für den Verkehr freigegeben werden.
Für die Gemeinde selbst steht die Infrastruktur im Vordergrund: Nachdem das Rückhaltebecken für Murgänge nun praktisch leer geräumt ist, geht es an die Verstärkung von Schutzbauten und deren Reparatur. Aber auch Brücken wurden weggerissen, Wasserleitungen zerstört und Gebäude der Gemeinde in Mitleidenschaft gezogen. Noch gibt es keinen genauen Überblick über die Höhe der Schäden.
Prävention hat sich bewährt
Ohne das Rückhaltebecken, welches die Gemeinde nach dem Murgang von 2012 gebaut hatte, wäre die Zerstörung von Bondo sicher viel grösser. Insofern hat sich diese präventive Massnahme bewährt. Es kam aber so viel Material, dass das Becken zu klein war. Die Gemeinde wird demnächst entscheiden, welche zusätzlichen Massnahmen getroffen werden müssen.
„Die Solidarität und der Zusammenhalt im Tal sind sehr gross“, sagt Anna Giacometti. „Jeder hilft jedem. Es ist schön, das zu sehen.“ Auch von aussen kommt Hilfe. Glückskette, Berghilfe, Caritas, die Patenschaft für Berggemeinden und andere eröffneten Spendenkonti. Bei der Glückskette sind bisher 5 Millionen Franken für Bondo eingegangen.
In der ersten Phase des Ereignisses galt es, unter der Führung der Kantonspolizei Leben zu retten, Vermisste zu suchen und sofortige Sicherungsmassnahmen zu treffen. Fünf Tage nach dem grossen Bergsturz ging die Führung an die Gemeinde über, die durch Fachleute des Kantons unterstützt wurde und noch immer wird. Martin Bühler, der Chef des Amts für Militär und Zivilschutz war der Einsatzleiter. Gemeinsam wurde ein Netzwerk für Bondo aufgebaut, in welchem man je nach aktuellem Bedarf zivile und uniformierte Kräfte einsetzte.
Tourismus wichtig in Val Bregaglia
Sofort nach dem Bergsturz klagten mehrere Tourismus-Betriebe über die Annullation von Buchungen. Auf die Herbstferien hin hat sich die Situation aber etwas normalisiert. Die Gäste haben realisiert, dass das Bergell nicht plötzlich ein gefährlicher Ort ist und dass das Leben im Bergell weitergeht. Der Herbst ist für viele die schönste Jahreszeit hier; insgesamt zeigt sich die Gemeinde zufrieden.
Anna Giacometti hofft sehr, dass das Tal im Winter von weiteren Murgängen verschont bleibt. Und wünscht sich, dass sich alle an der Bewältigung der Krise beteiligten Stellen und Personen weiter so grossartig einsetzen wie bisher. Ohne die Hilfe von aussen und den enormen Einsatz der Einheimischen könnte eine Gemeinde mit nur 1530 Einwohnern ein solches Ereignis nicht bewältigen.
Die Gemeinde Bregaglia informiert die Bewohner über ihre Internet- und Twitter-Seite
www.comunedibregaglia.ch/info-bondo
www.twitter.com/InfoBondo