Es war in Havanna. Vor rund 20 Jahren. Der unermüdlich reisende René Burri war an den Ort zurückgekehrt, wo er 1963 sein weltberühmtes Foto von Che Guevara gemacht hatte. Einer dieser magischen Augenblicke, wo man als Fotograf weiss: Das ist es, da habe ich einen ikonischen Augenblick festgehalten. Wenn man Pech hat, wie der kubanische Fotograf Korda, dessen Che-Foto zum meistreproduzierten Bild der Welt wurde, überstrahlt ein einziges Foto für immer das Gesamtwerk. Nicht so bei René Burri. Das Mitglied der legendären Fotografen-Agentur Magnum ist bis heute mit einer überbordenden Bilderwelt präsent.
Der magische Moment
Diesmal wollte René Burri mit einer Fotografie des Comandante en Jefe Fidel Castro nachlegen. Der hat nun noch nie in seinem langen Leben sich die Zeit genommen, für einen Fotografen zu posieren. Also postierten wir uns am Platz Parque Central mitten in Havanna, wo Fidel traditionsgemäss ein Mal im Jahr einen Marsch anführte, der an Studentenunruhen zur Zeit des Diktators Batista erinnert. Wir drängelten uns in die vorderste Reihe des Publikums, Burri fotografierte und ich bemühte mich, ihm Weg und Blick freizuhalten. Plötzlich fiel mir auf: «René, wo ist deine Fototasche?» Er hörte gar nicht richtig zu, der Comandante war schon an uns vorbeimarschiert, und es gelang René, ein grossartiges Bild zu machen. Fidel von hinten, man sieht nur seinen Hinterkopf, das Ohr, das Profil schon im Halbschatten, gewaltig.
Die Fototasche
Wir eilten nach der Tat zurück zum Platz, wo er im Eifer des Gefechts seine Fototasche einfach am Boden liegen gelassen hatte. Natürlich war sie weg. Für mich war sie endgültig verloren, aber nicht für ihn. Ich konnte zuerst seinen Optimismus nicht fassen, als mir sagte: «Wirst sehen, die ist nicht weg, fragen wir doch dort die Jungs vom Sicherheitsdienst Fidels.» Wir näherten uns den kräftig gebauten Männern in ihren olivgrünen Uniformen, die seit Jahrzehnten erfolgreich dafür sorgen, dass nie ein Attentatsversuch erfolgreich war. Ich war zutiefst überzeugt, dass René spinnt, keine Chance, aussichtslos.
Das macht ihn aus
Wir wurden streng gemustert, zeigten Ausweise, erklärten, René freundlich und liebenswürdig, ich eher mit halber Kraft, ehrlich gesagt. Plötzlich zeigte sich der Ansatz eines Lächelns in den strengen Gesichtern der Personenschützer, einer griff in den Kofferraum des herumstehenden Ladas und zog Burris Fototasche heraus. Uns wurde erklärt, dass man selbstverständlich vor dem Comandante den Weg abschritt und Ausschau nach verdächtigen Gegenständen hielt. Eine schwarze Tasche am Boden, kein Besitzer meldete sich, könnte ja eine Bombe drin sein, also wurde sie beschlagnahmt. Nach einer strengen Verwarnung begossen wir das Ereignis in der Bodeguita del Medio, und ich verneigte mich innerlich vor René Burri.
Was für ein Gedächtnis
Vor wenigen Jahren sass ich auf der Terrasse vor dem Hotel Telégrafo in Havanna und sah plötzlich einen Herrn mit Hut und Schal und Kamera vor der Brust vorbeischlendern. «René? Was machst du denn hier?» Obwohl wir uns viele Jahre nicht mehr gesehen hatten, erkannte er mich sofort wieder, wir unterhielten uns, als sei nur ein Tag seit der letzten Begegnung vergangen. Er war in Havanna, weil in einem grossen Museum sein Lebenswerk ausgestellt wurde, zur Feier seines 75. Geburtstags. Und die Kubaner strömten in Massen in die liebevoll zusammengestellte Präsentation. Unvergesslich eine Vitrine, in der ein Berg von Flugtickets und Kofferetiketten des unermüdlichen Weltreisenden ausgestellt war.
Die ganze Welt im Blick
Hugo Loetscher ist der Schweizer Schriftsteller, den es immer wieder in die Welt hinaustrieb, die er uns schreibend erfahrbar machte. René Burri ist der Schweizer Fotograf, der unermüdlich die Welt bereiste, um sie uns sichtbar zu machen. Beide zeichnet aus: ihre unendliche Liebe und Sympathie, ihre Offenheit, ihre Neugier dem Fremden gegenüber, dem Anderen. Sie messen nicht, sie richten nicht, sie spiegeln sich nicht in anderen Gegenden der grossen, weiten Welt. Sondern beide, Loetscher bis zu seinem Tod, René Burri bis heute, kommen wieder in die kleine Schweiz zurück und bereichern uns.
Ein langes Leben wünsch ich
Was bleibt, ist das Werk. Aber wer solche Werke schafft, der sollte noch lange unter uns weilen, denn wir brauchen dich, René. Wir brauchen deinen offenen Blick, wir brauchen dich, um die Welt etwas besser zu verstehen. Wir brauchen dich, damit wir im Sessel sitzen können und du uns auf Weltreisen mitnimmst, du uns Einsichten schenkst. Damit wir lernen und begreifen, was uns ohne deine Bilder nie sinnfällig würde, wohl nicht einmal auffiele. Dafür haben wir dich und deine Kunst, und deshalb wünsche ich dir, wünsche ich uns ein noch langes, langes Leben.