Wenn die Tragödie beginnt, ist im Grunde schon fast alles geschehen: der Vater hintergangen, der Bruder ermordet, das Vlies geraubt und Medea eine Fremde in Korinth, betrogen von dem, den sie liebte, ausgestoβen von einer Gemeinschaft, die sie nie akzeptierte. Und auch, was noch aussteht, wird vorher angekündigt: der Giftanschlag auf die Braut, der Tod Kreons, der Mord an den Kindern. Auf der Bühne wird nichts davon sichtbar. Es wird alles nur berichtet. Es geschieht alles nur in unseren Köpfen. Griechische Tragödien wie die „Medea“ von Euripides verlassen sich allein auf die Macht der Sprache. Und ihrer Magie vertraut auch diese kluge Inszenierung von Barbara Frey, die jetzt in einer Übernahme des Deutschen Theaters Berlin mit Nina Hoss in der Hauptrolle am Schauspielhaus Zürich Premiere hatte.
Mit dem sicheren Gespür für dramatische Effekte weiβ diese Regisseurin um die Wirkung der leisen Töne und sparsamen Gesten. In ihrer Inszenierung werden die ungeheuerlichsten Dinge scheinbar unbeteiligt und fast tonlos erzählt. Nur manchmal verraten ein leises Beben in der Stimme der Amme (Iris Erdmann), ein Stocken im Erzählfluss des Boten (Matthias Bundschuh), wie horrend das alles ist, was hier berichtet werden muss. Die gleiche Zurückhaltung haben sich auch Ursula Dolls Korintherin, Gabor Biedermanns Erzieher, Markus Scheumanns Kreon oder die von Siggi Schwientek leicht ins Lächerliche gezogene Figur des Ägeus auferlegt. Ja, selbst von Medea ist kaum je ein Schrei zu hören – und wenn, dann kommen die Laute aus einer Tiefe, der kein Mensch je nahe kommen möchte.
Nina Hoss führt uns eine Medea vor Augen, in der die Glut von Eifersucht, Schmerz und Verzweiflung längst erloschen ist. Sie spricht zwar andauernd von Rache, doch auch diese Gelüste sind eiskalt und darum umso bedrohlicher. „Unheimlich“ wird die Frau einmal genannt. Und das ist sie, das ist Nina Hoss in ihrem schlichten schwarzen Kleid (Kostüme: Gesine Völlm), der rauen, schneidenden Stimme, eine übergroβe Gestalt in der armseligen Container-Küche, die ihr als vorübergehende Bleibe zugewiesen ist. Neben dieser Medea wirkt Michael Neuenschwanders Jason mit seinem Macho-Gehabe nur noch erbärmlich, ein Schlappschwanz, der seine Frau schon deshalb loswerden muss, weil er ihr nicht gewachsen ist.
Auch ein "Clash of Civilization"
Die „Medea“ des Euripides bezieht ihre Brisanz – und auch ihre unverminderte Aktualität – unter anderem aus einer Art „Clash of Civilization“. Medea ist die Fremde, aus einem fernen, ungesitteten Land stammend und nie heimisch geworden in der wohl geordneten Welt von Korinth. Wie stellt man das dar? Barbara Frey und ihre Bühnenbildnerin Bettina Meyer lassen das Stück gewissermaβen auf zwei Ebenen spielen: in der gleiβenden Helle des korinthischen Hofes und im Zwielicht einer Asylantenunterkunft, die wie ein zweiter, kleinerer Guckkasten in die grosse Bühne eingelassen ist. So, wie Nina Hoss die Medea spielte, hätte man allerdings auch dieses aktualisierenden Fingerzeigs nicht bedurft, um zu verstehen, dass diese Frau in der Mehrheitsgesellschaft nie den Hauch einer Chance hatte. Sie ist die Ausgestoβene von Anfang an und hat keine andere Wahl, als zu gehen – oder die Welt zu zerstören, die nie die ihre war.
Medea tut etwas, was in der Kriminalgeschichte bis heute gar nicht so selten ist: Sie bringt ihre Kinder um, weil sie sie lieber tot weiβ, als dass sie sie dem Treulosen überlieβe. „Erweiterter Suizid“ nennt sich das. Nur, bei Euripides bleibt Medea am Leben. Das ist das absolut Verstörende an dieser Inszenierung, dass sie uns keinen Hinweis über den Schluss hinaus gibt. Der völlig gebrochene Jason, die wie zu Stein erstarrte Medea sind lebend Tote, und es gibt keine Erlösung, nirgends.
Über die Illusionslosigkeit und zugleich auch Zeitlosigkeit des antiken Menschenbildes kann man nur immer wieder staunen. „So sind die Menschen“, heiβt es lapidar in der ebenso heutigen wie archaisch anmutenden Übersetzung von Hubert Ortkemper. Barbara Frey und ihr Team haben den Autor beim Wort genommen. Sie lassen den Figuren keinen Ausweg. Medea legt zwar ihre weibliche Opferrolle ab und triumphiert über die Männer. Doch um welchen Preis? Dass Unsterblichkeit ein Trost sein soll, will uns Heutigen nicht mehr einleuchten. Und vom geflügelten Schlangenwagen, den Groβvater Helios der Sage nach Medea für ihre Flucht aus Korinth zur Verfügung gestellt haben soll, ist an diesem beklemmenden Abend auch nicht mehr die Rede. Der Glaube an eine göttliche Macht, die in Ordnung bringt, was der Mensch angerichtet hat, verfängt nicht mehr. Was bleibt, ist der ernüchternde Blick auf eine Welt ohne Transzendenz, ohne Sinn. Moderner geht’s nicht mehr.