„Mein Vater war Ingenieur, meine Mutter Pianistin. Ich wuchs also mit Technologie auf und mit Musik“. Irgendwie passt beides zu Tod Machover. Bald 62 Jahre ist er alt, geboren in New York und mittlerweile gilt er – laut „Los Angeles Times“ – als der „verkabeltste Komponist“. Und dies bezieht sich auf seinen Hang zur Elektronik.
Seit einem Jahr pendelt er aber zwischen Boston und Luzern hin und her. In Boston ist er am MIT Media Lab tätig. Das ist eine Fakultät des renommierten Massachusetts Institute of Technology. Dort entwickelt er auch elektronische Instrumente. Und in Luzern ist er dieses Jahr „composer-in-residence“ und hat vor allem eine „Sinfonie für Luzern“ komponiert, die am 5. September uraufgeführt wird.
In Luzern ist er also fast schon heimisch. Geradezu liebevoll schweift sein Blick vom dritten Stock des KKL über Schiffe, den See, die Reuss und die Altstadt. Er ist zwar schwarz gekleidet, sieht aber alles andere als trist aus: die Wuschelfrisur passt zum fröhlichen Gesichtsausdruck, er schliesst die Partitur, die vor ihm liegt und widmet sich ganz entspannt der Gesprächspartnerin. So, als hätte er jede Menge Zeit. Total sympathisch, dieser Tod Machover, denkt man gleich zu Beginn. Und er schwärmt von der Stadt: „Ich liebe Luzern!“ Damit ist er natürlich nicht der einzige. Aber er ist vielleicht der einzige, der jetzt mit seiner Sinfonie sozusagen eine Hymne auf Luzern anstimmt. Ein Jahr lang hat Tod Machover genau hingehört, um sich ein akustisches Bild von Luzern zu machen. Und er hat Luzerns Bevölkerung aufgerufen, ihm Töne zu schicken, Töne von „ihrem Luzern“.
Und? Wie klingt denn nun Luzern in seinen Ohren?
„Ein Teil Luzerns klingt leise, wie Kammermusik. Da sehen wir die Altstadt, es gibt wenig Autos, die Gebäude stehen eng beieinander, man hört Schritte, jemand redet in der Ferne. Das war mein erster Eindruck.“ Dann kam Machover regelmässig wieder nach Luzern und weitete seine Eindrücke aus. „Ich habe im Hotel Wilden Mann gewohnt und bin jeden Morgen die Reuss entlang gelaufen. Der Klang verändert sich ständig. Mal fliesst das Wasser ganz still, dann kommt man zum Wehr und es tost. Ueberall in der Stadt ist Wasser. Ueberall sind Brunnen. Dieses Geräusch in allen Varianten herrscht vor.“
Klangfetzen aller Art
Gleichzeitig sammelte Machover aber auch die Klangfetzen, die er während des Jahres zugeschickt bekommen hat. Manche waren nur ein paar Sekunden lang, aber Machover hörte sie sich alle an. „Da gab es natürlich viele Töne aus der Stadt. Aber manchmal waren es auch Töne aus dem Haushalt, der Küche, Leute, die sich miteinander unterhalten, singende Kinder, Trommelklänge. Jemand übt auf der Gitarre. Oder aus dem Arbeitsumfeld, also eine Werkstatt, eine Schmiede. Auch Undergroundmusik, das klang wie aus dem East Village in Manhattan! Aber nur ein einziges Auto-Geräusch habe ich bekommen.“
Machover hat auch mit Jazz-Studenten der Luzerner Musik-Hochschule an Workshops zusammengearbeitet. Herausgekommen ist eine Mischung aus klassischer Musik und experimenteller Improvisation. Jodler gehören ebenso dazu wie Guggenmusik. „Ich habe eine Guggenmusik von der ersten Probe bis zur Fasnacht begleitet und bin extra für die Fasnacht zwei Tage aus Boston nach Luzern gekommen. Da trifft so eine Art Underground-Energie auf Leidenschaft – und explodiert! Wenn man das nie erlebt hat, kann man es sich nicht vorstellen. Das ist ganz anders als der Mardi Gras in New Orleans oder der Carneval in Rio. In Luzern ist es individuell und nicht zentralgesteuert.“
Von Toronto über Edinburgh nach Luzern
Die Luzerner Sinfonie ist Tod Machovers vierte Städte-Sinfonie. Die erste hat er über Toronto geschrieben. „Toronto ist das pure Gegenteil von Luzern. Eine weitverzweigte Vier-Millionen-Stadt mit völlig anderem Sound. Nummer zwei war Edinburgh. Auch eine kleinere Touristen-Stadt, die ebenfalls ein Festival hat, wie Luzern. In Luzern liegen die Hügel ringsum, in Edinburgh ist der Hügel mittendrin. Dort haben die Leute die dunkle Seite der Stadt dokumentiert und auch darüber gesprochen. Am Fusse des Hügels haben früher die Armen und Kriminellen gelebt. R.L. Stevenson hat hier ‚Dr. Jekyll und Mr. Hyde‘ geschrieben, Joanne K. Rowling ‚Harry Potter‘ und Sigmund Freud sprach davon, dass es hinter den Türen von Edinburgh mehr Neurosen gibt als in Wien… Für mich war es interessant, festzustellen, dass sich der erste positive Eindruck der Stadt immer mehr verdunkelte. In Luzern war es völlig anders. Je mehr ich mich mit der Stadt beschäftigt habe, desto schöner wurde sie.“
40 bis 45 Stunden Tonmaterial dürften in Luzern zusammengekommen sein, schätzt Machover. „Das ist mehr, als ich erwartet hatte. Im Mai haben meine Studenten das Tonmaterial katalogisiert. Die meisten Geräusche haben wir über Handy und Internet von Leuten bekommen, von denen wir keine Ahnung haben, wie sie aussehen und was sie machen.“
Liebe zur alten Musik
Dank seiner intensiven Beschäftigung mit dem soundtrack der Stadt hat Machover jetzt so eine Art akustischen Stadtplan im Kopf. Und den wird das „Lucerne Festival Academy Orchestra“ nun ausbreiten. Vielleicht werden sich manche Luzerner wundern, wie ihre Stadt dann klingt, wenn man einmal mit offenen Ohren durch die Strassen läuft, statt sich über Kopfhörer mit Musik berieseln zu lassen, um möglichst sämtliche Alltagsgeräusche wegzufiltern.
Durch die Stadt würde Tod Machover nie mit Ohrenstöpseln spazieren. Mit einer Ausnahme. „Ganz früh morgens, wenn ich meine Übungen mache und auch laufe, dann höre ich Musik dazu.“ Elektronische, moderne? „Nein, ich höre ausschliesslich englische Vokal-Musik aus der Tudor- und Elisabethanischen Zeit. Ich liebe diese Musik! Und ich entdecke immer wieder Neues darin.“ Also Musik aus der Zeit vor 500 Jahren als Wachmacher für einen Musik- und Elektronik-Tüftler, den man als Daniel Düsentrieb der klassischen Musik bezeichnen könnte. Erstaunlich.