In einigen westlichen Ländern scheint das Vertrauen in das Funktionieren der etablierten demokratischen Prozesse und Prinzipien erheblich erschüttert. Die USA stehen vor einer Präsidentschaftswahl mit irritierend vielen Fragezeichen. Doch es gibt auch Gegenbeispiele, die geeignet sind, die Zuversicht in die Erneuerungskraft und Zukunft der Demokratie zu stützen. Eines davon ist die Art und der Stil des Machtwechsels in Grossbritannien.
Ausgerechnet das alte Königreich Grossbritannien mit seinen gelegentlich etwas skurril und verstaubt wirkenden Traditionen, das sich jahrelang für und gegen den Austritt aus der EU zerfleischt hatte, soll ein aktuelles Beispiel für den Glauben an die Vitalität und Funktionstüchtigkeit demokratischer Wahlprozesse abgeben? Ja, argumentiert der angesehene britisch-amerikanische Journalist und Blogger Andrew Sullivan. Er verweist zur Stützung seiner These in seinem Blog «The Weekly Dish» auf die beiden kurzen Reden, die am Tag nach der Unterhauswahl vom 4. Juli der Labour-Wahlsieger und neue Premierminister Keir Starmer und der Wahlverlierer und abgewählte konservative Regierungschef Rishi Sunak bei der Übergabe des berühmten Amtssitzes Downing Street 10 gehalten haben.
Keir Starmers und Rishi Sunaks grossherzige Reden
Diese Reden sind derart menschlich grossherzig und politisch versöhnlich gestimmt, derart weit vom polarisierenden Gekläff und den verdrehten Dämonisierungen der allgemeinen Wahlkampfrhetorik entfernt, dass es sich lohnt, sie im Wortlaut zu zitieren. Der scheidende Regierungschef Rishi Sunak richtete bei der Residenzübergabe von Downing Street 10 folgende Worte an seinen Nachfolger:
«Obwohl er mein politischer Gegner war, wird Sir Keir Starmer in Kürze unser Premierminister werden. In diesem Amt werden seine Erfolge unser aller Erfolge sein, und ich wünsche ihm und seiner Familie alles Gute. Ungeachtet unserer Meinungsverschiedenheiten in diesem Wahlkampf ist er ein anständiger Mann mit Gemeinsinn, den ich respektiere. Er und seine Familie verdienen unser aller bestes Verständnis, während sie den gewaltigen Übergang zu ihrem neuen Leben hinter dieser Tür vollziehen und er sich mit dieser anspruchsvollen Aufgabe in einer zunehmend instabilen Welt auseinandersetzt.»
Und Keir Starmer, der neue Hausherr in Downing Street 10 antwortete darauf so:
«Ich möchte dem scheidenden Premierminister Rishi Sunak für seine Leistung als erster britisch-asiatischer Premierminister unseres Landes danken. Die zusätzlichen Anstrengungen, die dies erfordert hat, sollten von niemandem unterschätzt werden, und wir zollen ihm heute Anerkennung. Und wir anerkennen auch die Hingabe und die harte Arbeit, die er in seine Amtsführung eingebracht hat. Wenn Sie gestern Labour gewählt haben, werden wir die Verantwortung für Ihr Vertrauen tragen, während wir unser Land wiederaufbauen. Aber egal, ob Sie Labour gewählt haben oder nicht, und vor allem, wenn Sie es nicht getan haben, sage ich Ihnen direkt: Meine Regierung wird Ihnen dienen.»
Trump und der demokratische Machtwechsel
Der Kommentator Sullivan schreibt nicht ohne Grund, seine Wahlheimat Amerika brauche einen Keir Starmer für die nächste Regierungszeit. Also einen neu gewählten politischen Führer, der einerseits die Souveränität aufbringt, seinen Amtsvorgänger aus dem Lager der Konkurrenzpartei mit menschlichem Respekt zu verabschieden, und gleichzeitig die Fähigkeit hat, unter vielen Bürgern im Lande weit über die eigenen Parteireihen hinaus Hoffnungen auf einen neuen gesellschaftlichen Aufbruch zu wecken.
Danach sieht es allerdings in den USA nicht aus. Der derzeitige Favorit bei der Präsidentschaftswahl im November, Donald Trump, bemüht sich zwar im Moment um mildere Töne, seit er am vergangenen Wochenende einem Attentat um Haaresbreite entgangen war. Doch man darf nicht vergessen, dass er vor vier Jahren bei der Amtsübergabe an seinen Nachfolger Joe Biden nicht den Anstand aufbrachte, bei dieser Zeremonie anwesend zu sein, wie das seit Jahrzehnten alle früheren Präsidenten getan hatten. Stattdessen halten Trump und seine nibelungentreuen Anhänger eisern an der Lüge fest, dass er in Wirklichkeit die Präsidentschaftswahl 2020 gewonnen habe – obwohl für diese Behauptung über alle juristischen Instanzen hinweg keinerlei belastbaren Beweise aufgetaucht sind. Wenig spricht jedenfalls dafür, dass Trump, sollte er im Herbst tatsächlich ein zweites Mal zum Präsidenten gewählt werden, je menschlich ähnlich anrührende und besonnene Worte an seinen Vorgänger Biden richten würde, wie sie Keir Starmer gegenüber Rishi Sunak gefunden hat.
Schon nach seinem Wahlsieg im Jahr 2016 hatte Trump nicht wahrhaben wollen, dass seine damalige Gegnerin Hillary Clinton insgesamt drei Millionen Stimmen mehr bekommen hatte als er selber und er selber die Präsidentschaft nur durch eine Mehrheit im sogenannten Wahlmännergremium gewonnen hatte. Seine anschliessenden Versuche als Präsident, diese ihn offenbar beleidigende Tatsache zu korrigieren, verliefen indessen ergebnislos im Sande – was immerhin für die Seriosität der zuständigen staatlichen Instanzen spricht.
Politische Wunder sind nicht ausgeschlossen
Sollte aber, entgegen den meisten aktuellen Prognosen, Joe Biden noch einmal für vier Jahre ins Weisse Haus gewählt werden, dann sind die Chancen, dass in Amerika eine hoffnungsvolle Aufbruchstimmung um sich greifen könnte, wie sie das britische Königreich Anfang Juni nach der würdigen Machtablösung in Downing Street 10 erlebte, auch nicht eben rosig zu nennen. Der dann 82-jährige Biden mag zwar für viele US-Wähler und Beobachter im In- und Ausland im Vergleich zu seinem egomanen Herausforderer entschieden das kleinere Übel sein, aber kaum eine Inspirationsquelle für gesellschaftliche und demokratische Erneuerung.
Mit solchen Hoffnungen wäre höchstens zu rechnen, wenn Biden selbst zur Einsicht kommt oder das Establishment der demokratischen Partei sich zum Entschluss aufrafft, dass ein frischer, glaubwürdiger Präsidentschaftskandidat oder eine Kandidatin gegen Trump in den Wahlkampf steigen muss – und dann zur allgemeinen Verblüffung auch die Präsidentschaft gewinnen würde. Falls eine solche Variante allen Hindernissen und Wahrscheinlichkeitsrechnungen zum Trotz doch Realität werden sollte, könnte man von einem Triumph gesellschaftlicher Reife und demokratischer Entscheidungsmöglichkeiten sprechen.
So, wie sie sie in diesen Tagen im Königreich Grossbritannien zum Tragen gekommen sind.