Indien und Pakistan verweigern eine formelle Verurteilung Russlands. Sie glauben es sich nicht leisten zu können, ihre Sicherheitsinteressen einem moralischen Urteil unterzuordnen.
«Was für eine Aufregung!», rief der pakistanische Premierminister Imran Khan laut dem Sender «Deutsche Welle» aus, als er am 23. Februar auf dem Moskauer Flughafen landete. Es war der Tag des grossen Schmierenstücks im Prunksaal des Kremls, bevor am nächsten Morgen die ersten russischen Panzer über die ukrainische Grenze rollten.
Khan hatte den längst vereinbarten Besuchstermin beim russischen Präsidenten eingehalten und wurde damit zum ersten ausländischen Amtsträger, der Wladimir Putin nach Beginn der Invasion traf. Putin liess sich die Chance nicht entgehen und projizierte eine Fassade des «business as usual». Nur Stunden nach seiner frühmorgendlichen Kriegserklärung liess er sich mit Khan beim Handschlag ablichten, wie es von Staatsmännern erwartet wird.
Von Putin «vorgeführt»
Auch Khan genoss den Wimpernschlag globaler Wahrnehmung. Und sei’s drum, dass er dafür eine Katastrophe einspannte. Die russischen Medien liessen sich den Augenblick nicht entgehen, ebenso wenig wie die Regierung, die Khans Kranzniederlegung vor dem Grab des Unbekannten Soldaten als Ehrenrunde für ihre Streitkräfte inszenierte.
Opportunistisch oder nicht, die Visite entbehrt nicht einer gewissen Logik. Es sei ein «Arbeitsbesuch» gewesen, sagte der Premierminister später, als ihm pakistanische Medien vorwarfen, von Putin «vorgeführt» worden zu sein. Es sei um Pakistans Energieversorgung gegangen – der Abschluss eines Pipeline-Deals für russisches Erdgas soll unmittelbar bevorstehen.
Achse Islamabad-Moskau?
Auch Indien reagierte nicht mit Spott. Die Medien betonten vielmehr die Bedeutung des Russland-Besuchs eines pakistanischen Regierungschefs – des ersten in zwanzig Jahren – für den regionalen Kontext. Pakistan ist ein enger Verbündeter Chinas, das mit Russland erst vor Wochen ebenfalls eine ähnliche Allwetter-Allianz beschloss. Für Indien zeichne sich damit eine neue Achse Islamabad-Moskau ab, sagte der «Indian Express». Sie könnte sich mit der bestehenden zwischen Pakistan und China zu einem strategischen Dreieck schliessen.
Dies scheint weit hergeholt, sind die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Pakistan und Moskau doch vernachlässigbar. Pakistan hat auch bei weitem nicht das politische Gewicht der zwei anderen Partner. Seine Abhängigkeit von den USA ist zudem zu gross, um sie leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Washington ist Pakistans wichtigster Waffenlieferant. Es hängt auch am Tropf von Weltbank und IMF, zwei vom Westen beherrschten Institutionen. Allerdings hat sich nach dem amerikanischen Afghanistan-Abzug die Bedeutung Pakistans in der Region wieder erhöht – was auch für Russland und China gilt.
Stimmenthaltung
Nach Khans Moskau-Besuch am Tag vor Kriegsausbruch war eine Stimmenthaltung Islamabads bei der Ukraine-Resolution der Uno-Generalversammlung zu erwarten. Indien hatte dies bereits bei den zwei Sicherheitsrat-Abstimmungen getan. Trotz mehreren Appellen des ukrainischen Präsidenten war klar, dass Delhi auch in der Uno-GV einen klaren Positionsbezug gegen Russland verweigern würde.
Delhi übte in seinen beiden Stellungnahmen allerdings eine erstaunlich klare Kritik am Urheber der Kriegsentfesselung. Wer nur auf die Erklärung des indischen Uno-Botschafters hörte, konnte eigentlich nur ein Ja-Votum erwarten – bis zum letzten Satz, der dann doch in eine Enthaltung mündete. In Indien rechtfertigte sich die Regierung mit der grossen Sorge um die immer noch rund 16’000 Studenten, die in den ukrainischen Grossstädten eingeschlossen sind. Wenn es dafür noch eines Beweises bedurfte, kam er gleichentags aus Charkiw. Ein indischer Student war dort durch einen Bombensplitter getötet worden – das erste indische Kollateral-Opfer des Kriegs.
Chinesisches Grossmachtgebaren
Es gibt aber auch längerfristige Gründe, die für Indiens Verhalten sprechen. Der unbestrittene Fokus von Indiens Aussenpolitik wird dominiert von seinem Verhältnis zu China, dessen Grossmachtgebaren auch an Indiens Grenzen prallt. Für die Kontrolle dieses Risikos spielt Russland als wichtigster geopolitischer Rivale Chinas auf dem asiatischen Kontinent eine bedeutende Rolle.
Eine Reihe chinesischer Nadelstiche an der nicht geklärten Grenzlinie entlang der Himalaya-Kette hat das Risiko einer militärischen Eskalation erhöht. Es mag sein, dass ein solcher Konflikt unentschieden ausgehen würde. Dies setzt aber voraus, dass die Regierung in Delhi ihre Militär-Ausgaben wesentlich erhöht. Damit droht sie aber die schwächelnde indische Wirtschaft noch grösserem Stress auszusetzen. Beijing dagegen kann einen teuren Krieg auf dem «Dach der Welt» ohne weiteres verkraften.
Wachsender chinesischer Druck
Die Bedrohung entlang der Nordgrenze verdichtet sich zu einer Einschnürungsangst, wenn man Chinas Marine-Präsenz im Indischen Ozean einbezieht. Die «Perlenschnur» von Flottenbasen ist mit Beijings Wirtschaftsdiplomatie gekoppelt, die es gegenüber Indiens Nachbarn Myanmar, Sri Lanka und Pakistan unterhält.
Für Delhi ist die politische Wirkung der «Belt&Road»-Initiative insbesondere bei Pakistan von Bedeutung. Die aufgehäuften Schulden für die riesigen Infrastrukturprojekte haben aus dem strukturschwachen Land einen Klientelstaat gemacht, und dies erhöht Chinas Druck auch an der indischen Westflanke.
Neue Annäherung Indiens an die USA
Indien hat auf die «imperialen» Aspirationen Chinas mit einer Intensivierung seiner Beziehungen mit anderen China-kritischen Ländern reagiert. Der wichtigste Schritt war dabei die Teilnahme an der «indo-pazifischen» «Quad»-Vereinigung, zusammen mit den USA, Australien und Japan. Es hat auch seine Waffenkäufe in den USA wesentlich ausgebaut. Die anti-amerikanische Spitze, jahrzehntelang eine feste Grösse in der indischen Aussenpolitik, ist praktisch verschwunden.
Allerdings genügt in der Sicht Delhis die Anti-China-Front des «Quad» nicht, um Beijing in Schach zu halten. Besonders die Führungsrolle Washingtons gerade in Asien ist nicht erst seit Trumps Amtszeit ein Unsicherheitsfaktor. Das Afghanistan-Debakel hat zudem endgültig gezeigt, dass die USA sich von der Rolle des ungeliebten «Weltpolizisten» verabschiedet haben.
Besondere Umstände
Das ist der entscheidende Grund, warum Russlands Freundschaft für Indien immer noch ein wichtiger Faktor ist. Delhi kann es sich nicht leisten, diese Karte aus der Hand zu geben, so gross die Bestürzung über Putins Gewaltakt gegen die Ukraine auch sein mag.
Die beiden sind zudem Bündnispartner, und dies seit einem halben Jahrhundert. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat Moskau die Annäherung Indiens an den Westen respektiert, auch den Rückgang der Waffenkäufe (-53 Prozent) und Indiens Bevorzugung amerikanischer Waffensysteme. Selbst Washington scheint die besonderen Umstände von Indiens Position zu Russland anzuerkennen. So hat es bisher darauf verzichtet, Delhi für den Kauf einer russischen Raketenabwehr wegen Sanktionsbruchs zu bestrafen. Auch die offizielle Kritik an Delhis Stimmenthaltung in New York war verhalten.
Russland, Juniorpartner Chinas?
Der kürzliche Schulterschluss von Putin und Xi Jinping geschah zweifellos mit Blick auf Putins Europa-Politik. Er muss im indischen Aussenministerium dennoch ein mittleres Erdbeben ausgelöst haben. Der indisch-sowjetische Freundschaftsvertrag von 1971 hatte eine eindeutige anti-chinesische Ausrichtung gehabt, als Reaktion auf die Annäherung Chinas und den USA, die damals über Pakistan eingefädelt worden war. Diese scheint nun vollständig ausgehebelt worden zu sein.
Eine Zustimmung zur Verurteilung Russlands an der Uno hätte das bilaterale Verhältnis in eine Zerreiss-Probe verwandelt und die Annäherung der beiden asiatischen Giganten China und Russland womöglich noch gefestigt. Dieselbe Wirkung könnten laut dem Eurasien-Experten Nandan Unnikrishnan die westlichen Sanktionen haben. Sie dürften Russland wirtschaftlich so stark schwächen, dass es zum Juniorpartner Chinas verkommt. Plötzlich wäre Moskau für Delhi nicht mehr die Konstante, auf die es sich in seinem wichtigsten aussenpolitischen Dossier verlassen kann.
In den Sozialen Medien in Indien ist die internationale Kritik an der neutralen Haltung des Landes mehrheitlich zurückgewiesen worden. Sie werfen dem Westen vor, die Welt nur aus seiner Optik zu sehen. Srinath Raghavan, Professor für Zeitgeschichte an der Ashoka-Universität, mokierte sich über die Kritiker, für die sich die Eigeninteressen der Grossmächte als «strategisch und sicherheitsrelevant» rechtfertigten; derweil habe sich der Rest der Staatenwelt geflissentlich an «Prinzipien» und «Moral» zu halten.