Sie nennen sich „Kämpfer der Sinai-Provinz des ‚Islamischen Staats’“. Der Bombenanschlag auf die al-Rawda-Moschee, der mindestens 305 Tote gefordert hat, ist untypisch. Früher haben sie vor allem Armee- und Sicherheitskräfte auf Strassen oder an Strassensperren angegriffen. Die Moschee scheint jetzt zum Ziel geworden zu sein, weil sie bei den Sufis beliebt ist. Dabei handelt es sich um muslimische Mystiker. Sie werden von den Anhängern der islamistischen Ideologie als „Abfällige vom Islam“, eingestuft. Sie sollten sich zum „wahren“ Islam bekehren, hiess es, oder sie müssten mit „Hinrichtungen“ rechnen. Auf einem gezeigten Video wurde die Exekution zweier alter Männer gezeigt, die als Sufi bezeichnet wurden.
Die Ortschaft Bir al-Abed, wo der Anschlag stattfand, gehört zum Einflussgebiet eines Stammes, der mit den ägyptischen Sicherheitsleuten zusammenarbeitet. Dies könnte ein weiterer Grund für den Angriff sein.
Informationsmangel über Sinai
Über die Anschläge und die Aufstandsbewegung im Sinai gibt es wenig verlässliche Berichte. Seit 2014 herrscht dort der Notstand. Journalisten werden nicht zugelassen. Die ägyptischen Zeitungen müssen sich darauf beschränken, das abzudrucken, was ihnen die Armeesprecher oder das Innenministerium diktieren. Einige Journalisten, die versuchten, auf eigene Faust im Sinai nachzuforschen, sitzen im Gefängnis. Andere erhielten Schreibverbot.
Die regierungsnahe Zeitung al-Ahram hat alle Anschläge aufgelistet, die von den Regierungsstellen gemeldet wurden. Danach hat es in den Jahren 2014 und 2015 ingesamt 1’165 Anschläge gegeben. Das heisst: durchschnittlich drei alle zwei Tage. 2017 sei die Zahl der Anschläge weiter gewachsen. Die meisten Attentate ereignen sich im Sinai. Doch auch in Kairo, in der Westlichen Wüste und in Oberägypten sind die Attentäter aktiv.
Misshandlung der Beduinen
Die Rebellion im Sinai brach schon 2005 zur Zeit Mubaraks aus. Im Ferienort Scharm asch-Schaich am Roten Meer starben damals bei mehreren Bombenanschlagen mehr als 80 Menschen. Die Regierung machte die Beduinen für die Attentate verantwortlich. Etwa 3000 wurden gefangengenommen und gefoltert, um Geständnisse zu erpressen. Auch Frauen und Kinder wurden von der Regierung als Geiseln genommen. Die meisten der Festgenommenen blieben in den Gefängnissen, ohne je vor ein Gericht gestellt zu werden. Die Beduinen schworen Rache. Das Vorgehen der Regierung zeigte, welche Menschenverachtung sie den Beduinen entgegenbrachte – und entgegenbringt.
Radikale Islamisten, die möglicherweise ursprünglich aus Gaza gekommen waren, konnten diese Stimmung ausnützen, um die Beduinen zur Zusammenarbeit zu gewinnen. Aus dieser Kombination entstand eine erste radikal-islamistische Widerstandsgruppe, die sich „Ansar Beit al-Maqdes“ (Parteigänger für Jerusalem) nannte. Nach der Gründung des IS in Syrien und im Irak im Jahr 2014 schlossen sich diese Kämpfer als die „Provinz Sinai“ dem „Kalifat“ des IS an.
Sie erhielten Zulauf und neuen Auftrieb, als Präsident Sisi nach seiner Machtübernahme von 2013 gegen die Muslimbrüder vorging. So trieb er manche der Brüder in den radikalen Widerstand. Ihre Waffen erhielten die Aufständischen aus den Beständen des untergegangenen Ghadhafi-Regimes.
Ausnahmezustand
Präsident Sisi schickte grössere Armee-Einheiten auf die Halbinsel. Doch ihre Präsenz scheint nur bewirkt zu haben, dass der Widerstand weiter zunahm. Zudem dehnte er sich auf andere Teile Ägyptens aus.
Anfänglich waren die Ägypter überzeugt, die Rebellion werde von Gaza aus unterstützt und gesteuert. Deshalb zerstörte die ägyptische Armee Hunderte Tunnel, die damals Gaza mit dem Sinai verbanden. Im Verlauf dieser Aktion wurde ein Gebiet entlang der Grenze zum Gaza-Streifen zum Niemandsland erklärt. Zahlreiche Häuser wurden zerstört. Die Bewohner mussten sie verlassen und wurden im besten Fall ungenügend entschädigt. Auch diese Aktionen erhöhten die Spannungen zwischen den Sinai-Bewohnern und den „Besatzungskräften“ der ägyptischen Armee und Polizei.
Trotz des Eingreifens der Armee und der Zerstörung der Tunnel blieb der Widerstand weiterhin sehr aktiv und dehnte gar sein Aktionsgebiet aus. Im Oktober 2014 töteten die Rebellen an einer Strassensperre nahe der Ortschaft Scheikh Zuweid 33 Regierungssoldaten. Daraufhin rief die Armee im nördlichen Teil der Halbinsel den Ausnahmezustand aus. Dieser wurde seither immer wieder verlängert, doch die Überfälle hörten nicht auf.
Falsche Rebellen
Der Ausnahmezustand erlaubt es den Sicherheitskräften, mit der lokalen Bevölkerung zu tun, was sie wollen. Kontrollen unterstehen die Armee-Angehörigen nicht. Nicht alle getöteten Rebellen sind offenbar Rebellen. Erzählt wird, dass die Leichen getöteter Zivilisten mit Gewehren ausgestattet würden. So kann die Armee behaupten, sie habe Rebellen getötet.
Die Armee hat versucht, die Stammeschefs zur Zusammenarbeit mit den Sicherheitskräften zu bewegen – was laut Armee-Angaben auch gelungen sei.
Doch die Stammeschefs laufen Gefahr, bei ihren Stammesleuten an Einfluss zu verlieren. Vor allem dann, wenn die Stammesleute von der Armee misshandelt werden, während die Stammeschefs mit den Offizieren verkehren. Deshalb kehren sich viele Stammesleute von ihren Chefs ab und sehen in den Rebellen und ihren Anführern, die sich islamisch gebärden, eine Alternative.
Überfall in der Westlichen Wüste
Der letzte grössere Zwischenfall vor dem jetzigen Anschlag spielte sich vor einem Monat, am 23. Oktober, in der Westlichen Wüste ab. Dort gerieten militärisch ausgerüstete Sicherheitspolizisten in einen Hinterhalt und wurden von Rebellen beschossen. Die Sicherheitsleute waren unterwegs, um in den Tiefen der Wüste gegen die Rebellen vorzugehen. Über die Zahl der Opfer gibt es unterschiedliche Meldungen. Sie variierten zwischen 8 und 24. Auch Rebellen sollen nach offiziellen Aussagen erschossen worden sein.
Die Truppe habe versucht, mit ihren Vorgesetzten im Innenministerium Kontakt aufzunehmen, doch die drahtlose Verbindung habe nicht funktioniert. Mehr war aus den lakonischen offiziellen Darstellungen nicht zu vernehmen. Einige Tage später allerdings liess die Präsidentschaft verlauten, der Präsident habe den Stabschef der Armee, General Mahmud Hegazy, durch General, Muhammed Farid Hegazi ersetzt. Aus dem Innenministerium wurde bekannt, dass dortige Spitzenbeamte, ebenfalls Generäle, wie der Chef des Inlandsicherheitsdienstes und dessen Assistent für die Wüstenprovinz Gizeh, entlassen worden seien.
„Alternative“ Information
Der Fall ist erwähnenswert, weil im Internet eine Version B für diese Ereignisse vorliegt. Sie ist viel ausführlicher als die offiziellen Communiqués. Ihr zufolge soll ein verwundeter Offizier den behandelnden Ärzten anvertraut haben, 70 Mann seien unterwegs gewesen. Panzerwagen hätten die Wagenkolonne vorne und hinten abgesichert. In einer Talmulde seien sie überfallen worden. Ein Agent, der die Kolonne begleitete und behauptet hatte, er kenne die Schlupfwinkel der Rebellen, sei ein Doppelagent gewesen, der die Kolonne in den Hinterhalt geführt habe.
Etwa 30 „Jugendliche“ hätten angegriffen. Zuerst seien die Panzerwagen an der Spitze und am Ende der Kolonne gleichzeitig durch Raketen zerstört worden. Die Wagen dazwischen waren eingekeilt und wurden beschossen. 50 Sicherheitspolizisten seien erschossen oder verwundet worden. Die andern hätten sich ergeben. Der Agent habe den Angreifern mitgeteilt, wer von den Überlebenden zu den Offizieren gehöre. Diese seien von der Mannschaft getrennt und gefragt worden, ob sie leben oder sterben wollten. Jene, die leben wollten, seien als Geiseln genommen worden. Die anderen wurden erschossen. Die Angreifer hätten sich die Zeit genommen, die Reifen der Autos zu demontieren. Zusammen mit dem erbeuteten Kriegsgerät verschwanden sie in der Wüste.
Nicht kontrollierbar
Der überfallene Sicherheitstrupp sei ausschliesslich aus Sicherheitsleuten des Innenministeriums zusammengesetzt gewesen. Der Trupp habe ohne Wissen der Armee gehandelt. Die Chefs im Innenministerium wollten offensichtlich den erwarteten Erfolg der Aktion für sich allein in Anspruch nehmen.
Solche Darstellungen sind nicht nachprüfbar. Es ist möglich, dass es sich um reine Propaganda der Islamisten handelt. Sie wirken jedoch in ihrer Ausführlichkeit glaubwürdiger als die offiziellen Verlautbarungen, in denen es immer nur heisst, die Armee habe so und so viele Terroristen getötet. Gleichzeitig aber werden pompöse Begräbnisse von Offizieren zelebriert und auch am Fernsehen gezeigt. Die Offiziere, so heisst es dann, hätten dem Vaterland ihr Leben geopfert.
Fest steht nur, dass die Zahl der Anschläge eher zu- als abnimmt. Und dies trotz der von Präsident Sisi immer wieder erneuerten Versicherung, dass die Terroristen „erbarmungslos zerschlagen“ würden.