Gleichzeitig wird ihm verboten, bis an sein Lebensende ein politisches Amt auszuüben. Berlusconi wird gegen dieses erstinstanzliche Urteil rekurrieren. Im Berlusconi-Lager heisst es, das Urteil sei „surreal“ und „ein Attentat auf die Demokratie“. Trotzdem betonen Beobachter, das Urteil werde wahrscheinlich kaum Auswirkungen auf das Regierungsbündnis haben.
Die Urteilverkündung wurde live vom italienischen Fernsehen sowie von den grossen italienischen Zeitungen live übertragen. Nur wenige Prozesse hatten in den letzten Jahren in Italien ein derart grosses mediales Interesse gefunden.
Neben den komplett anwesenden italienischen Medien sind am Montag auch Dutzende ausländischer Fernsehstationen vor den Mailänder Justizpalast gezogen. Al Jazeera war da, CNN und auch das japanische Fernsehen. Vor dem Gerichtsgebäude versammelten sich Anhänger und Gegner Berlusconis und gerieten sich schon in die Haare. Eine Frau kam mit einer Madonna-Statue, die Berlusconi Glück bringen sollte.
Das Sexy-Mädchen aus Marokko
Die Marokkanerin Karima El Mahroug alias Ruby ist 17 Jahre und 95 Tage alt, als sie Berlusconi zum ersten Mal in seiner Villa bei Mailand trifft. Es ist einer dieser Bunga Bunga-Abende. Zwanzig junge Frauen umschwärmen den Ministerpräsidenten; viele sind nackt.
26 Monate lang versuchte die Mailänder Staatsanwalt nachzuweisen, dass Berlusconi Sex mit der minderjährigen Ruby hatte - oder die Minderjährige zur Prostitution animiert zu haben. Über 50 Sitzungen fanden statt. Dutzende junger Frauen wurden immer wieder verhört, Hunderte Telefongespräche wurden abgehört.
Zu Beginn der Vernehmungen sendete Ruby unterschiedliche Signale aus. Doch seit anderthalb Jahren beteuert sie: „Ich hatte nie Sex mit Berlusconi“. Er sei ein liebenswürdiger, einsamer Mann gewesen. Wie ein Vater habe er sich um sie gekümmert. „Besser als mein eigener Vater, der mich vergewaltigt hat“. Berlusconi habe einfach bezahlt dafür, dass ihm junge Frauen Gesellschaft leisteten.
Politischer Prozess?
Die Staatsanwaltschaft glaubt das alles nicht. Sie forderte für Berlusconi eine siebenjährige Strafe: wegen Amtsmissbrauchs und wegen Animierung einer Minderjährigen zur Prostitution. Doch nicht genug: Die Anklage verlangte, dass Berlusconi Zeit seines Lebens kein politisches Amt mehr übernehmen dürfe.
Dass Berlusconi jetzt sogar zu sieben Jahren verurteilt wurde, hat kaum jemand erwartet. Er und seine Antwälte erklären seit langem, der Prozess sei ein „politischer Prozess“. Die linke Staatsanwaltschaft und die drei linken Richterinnen, angeführt von Giulia Turri, wollten ihn politisch zu Fall bringen.
Um zu demonstrieren, dass alles mit rechten Dingen zuging, hatte das Gericht Edmondo Bruti Liberati beigezogen, den Präsidenten der italienischen Richtervereinigung. Er hat die Aufgabe, die Richter des Landes zu überwachen, selbst ihre Telefone werden abgehört. Liberati war am Montag bei der Urteilsverkündung dabei.
Mit 13 den Männern den Kopf verdreht
Alles beginnt auf Sizilien. Rubis marokkanische Eltern hatten sich im Quartier Torrente San Filippo im Küstendorf Letojanni niedergelassen. Schon mit 12 oder 13 Jahren verdreht „Sexy-Ruby“ den Männern den Kopf. Auch der Polizei fällt sie auf: als kleine Diebin.
Im Frühjahr 2009 wird der 79-jährige Emilio Fede auf Ruby aufmerksam. Er ist Direktor von Berlusconis Fernsehkanal TG4. Und er ist Jury-Präsident eines Schönheitswettbewerbs, an dem Ruby teilnimmt. Emilio Fede empfiehlt das Mädchen seinem Freund Lele Mora. Dieser ist ein Busenfreund Berlusconis und hat vor allem die Aufgabe, dem Ministerpräsidenten junge Frauen zu beschaffen.
Sex mit Berlusconi: „Nie!“
Am 14. Februar 2010, es ist Valentinstag, betritt Ruby erstmals Berlusconis Villa „San Martino“ in Arcore bei Mailand. Später erzählt sie, dass sich unter den anwesenden Frauen berühmte Fernsehmoderatorinnen befunden hätten, Stars und Sternchen, eine Prostituierte und zwei Politikerinnen. Ruby ist es, die erstmals den Ausdruck „Bunga Bunga“ publik macht. Berlusconi habe ihr erzählt, beim Bunga Bunga lade man Gäste ein, und nach dem Nachtessen gebe es eine erotische Nachspeise.
Was an diesem Abend und in den Monaten danach geschieht, versuchten die Ermittlungsbehörden herauszufinden. Sowohl für die Anklage wie auch für die Verteidigung war Ruby eine schwierige Klientin. Sie widersprach sich oft und tischte mehrmals andere Geschichten auf. Doch bei einem blieb sie: Sex mit Berlusconi – nie, nie, nie. Zwar habe sie in Telefongesprächen von Sex mit Berlusconi gesprochen, doch das sei nicht ernst gemeint gewesen.
“Die einzige Angekleidete war ich“
„Silvio hat mich mit offenen Armen empfangen, er war nett, süss, er hat mich beschützt, hat mir etwas Geld geliehen. Er hat mir versprochen, mir bei der Aufenthaltsgenehmigung zu helfen. Was wollte er im Gegenzug? Nichts. Giuro.“
Ruby ist noch mehrmals nach Arcore zurückgekehrt. „Silvio sagte mir, es würde ihm gefallen, wenn ich die Nacht hier verbrächte“. Er beteuerte auch: „Habe keine Bedenken, es wird keine sexuellen Avancen geben, niemand wird dich belästigen'“. Und so sei es gewesen.
„Wir assen zusammen und dann nahm ich zum ersten Mal an einem Bunga Bunga teil“. Sie sei die Einzige gewesen, die angekleidet blieb. Silvio habe ihr zu trinken serviert, ein Sanbitter. „Er war der einzige Mann hier. Dann nahmen alle ein Bad im gedeckten Schwimmbecken. Silvio hat mir ein Bikini besorgt.“ Einige der jungen Frauen hätten mit dem Handy fotografiert. Nach dem Essen habe Berlusconi die Angebeteten im 10 Minuten-Takt in einem Separée empfangen.
Die Diebin
Rubys Auftritte in Berlusconis Villa wären vielleicht unbemerkt geblieben, wenn nicht … wenn nicht dieser 27. Mai 2010 gewesen wäre. Damals beginnt Berlusconis Cauchemar.
An diesem Abend um 18.15 Uhr wird Ruby in Mailand festgenommen. Einige Tage zuvor hatte sie eine Diskothek besucht. Dort traf sie, spät in der Nacht, Caterina P. und zwei Freundinnen von Caterina. Die drei kannten Ruby nicht, doch sie kamen ins Gespräch. Schliesslich lud Caterina alle zu sich nach Hause ein. „Ihr könnt bei mir schlafen“.
Am nächsten Morgen geht Caterina mit ihren beiden Freundinnen nach unten in eine Bar, um einen Kaffee zu trinken. Ruby schläft noch tief. So scheint es. Als die drei zurückkommen, ist Ruby nicht mehr da. Caterina entdeckt, dass 3'000 Euro und einige Schmuckstücke fehlen.
Dann hilft der Zufall. Am 27. Mai spaziert Caterina P. über den Corso Buenos Aires in Mailand. In einem Schönheitssalon sieht sie – durch das Fenster – Ruby. Über die Nummer 113 ruft Caterina die Polizei. Ruby wird festgenommen und in den Polizeiposten in der Via Fratebenefratelli gebracht. Dokumente hat sie keine auf sich.
“Wer ist Mubarak?“
Plötzlich erscheint eine wild gestikulierende hohe Polizeibeamtin und fordert die sofortige Freilassung von Ruby. Berlusconi habe angerufen und erklärt, Ruby sei die Nichte von Mubarak. Die Polizisten sind verblüfft. Freilassen? Wieso denn, sie ist eine Diebin! „Wer ist Mubarak“ fragt einer der Polizisten. Schüchtern sagt die Beamtin: „Der ägyptische Präsident“. Später schreiben die Polizisten ins Protokoll, Ruby sei die Nichte von „Muborach“.
Jetzt tritt Nicole Minetti auf, die einstige Zahnhygienikerin von Berlusconi. Ihr verhalf er zu einem Sitz im lombardischen Regionalrat. Minetti sagt, sie sei beauftragt worden, Ruby abzuholen. Die Polizisten und die Jugendanwältin wehren sich. Nicole telefoniert nach Rom. Kurz darauf ruft Pietro Ostuni, der Mailänder Polizeichef, an. Er fordert die sofortige Freilassung Rubys. Berlusconi hatte ihn aufgefordert, Ruby freizulassen. Es ist zwei Uhr früh. Nicole zieht mit Ruby davon.
Die beiden gehen durch die Mailänder Strassen. Nicole erzählt, dass Berlusconi sie beauftragt habe, Ruby abzuholen. Und Silvio habe gebeten, ihn über den Verlauf der Dinge auf dem Laufenden zu halten. Deshalb rufen die beiden jetzt Berlusconi an. Nicole lacht und scherzt mit dem Ministerpräsidenten. Dann reicht sie das Handy Ruby weiter. Diese erzählt später: „Silvio hat mir gesagt: Du bist keine Ägypterin, du bist nicht volljährig, aber ich mag dich trotzdem („ti voglio bene lo stesso“).“ Gesehen hätte sie ihn nicht mehr, doch sie hätten oft telefoniert. Später wurde publik, dass die beiden während 77 Tagen 67 Mal telefoniert haben.
“Nein, das habe ich erfunden“
Während des 26-monatigen Prozesses zeigt Ruby den Richtern die Geschenke, die sie von Berlusconi erhalten habe: Goldene Kreuze, Ohrringe, Halsketten, Uhren mit Brillanten (Rolex, Bulgari, Dolce&Gabbana), aber auch einen Audi, viel Haute Couture und 150‘000 in bar. Einmal sagt sie, Berlusconi habe ihr eine Wohnung im Norden von Mailand gemietet.
Ruby treibt die Ermittler immer wieder zur Weissglut. Offen sagt sie manchmal „nein, das habe ich erfunden, nein, so war es nicht, jetzt sage ich die wirkliche Wahrheit“. Später revidiert sie dann erneut ihre Aussagen. Natürlich ist ihr immer wieder vorgeworfen worden, von Berlusconi Schweigegeld erhalten zu haben. Beweise dafür gibt es nicht.
Regierungskrise?
Berlusconi hatte schon vor der Urteilsverkündung gedroht, er würde bei einer Verurteilung zu Massenprotesten gegen die Justiz aufrufen. Aus Kreisen seiner Partei war zu hören, Berlusconi könnte im Fall eines für ihn negativen Verdikts aus der grossen Koalitionsregierung austreten und Ministerpräsident Letta zu Fall bringen.
Es wäre eine Überraschung, wenn es dazu käme. Denn die Regierung Letta hat nun wirklich nichts zu tun mit Berlusconis Ruby-Prozess. Ein solcher Schritt könnte sich für Berlusconi und seine Partei als Bumerang erweisen. Berlusconi selbst hat angedeutet, er wolle die Regierung, an der seine Partei beteiligt ist, nicht stürzen.
Wahrscheinlicher ist, dass Berlusconi mit grossem Getöse die Justiz anprangert und das Urteil als „politisches Urteil“ bezeichnet. Wahrscheinlich auch werden einige Demonstrationen mit Zehntausenden seiner Anhänger stattfinden. Und dann? Im Lande der ewigen Demonstrationen ist das nichts Aufregendes. Alles wird im Sand verlaufen.
Natürlich werden sich seine Parteileute mit ihm öffentlich solidarisieren. Aber das ist platter Usus. Berlusconi hätte - theoretisch - die Möglichkeit, auf den Sturz der Regierung Letta hinzuarbeiten, um dann zu hoffen, dass er Neuwahlen gewinnt. Und dann könnte er ein Gesetz verabschieden lassen, dass die wichtigsten Politiker im Lande vor Straffreiheit schützt. Doch ob das alles funktioniert? Eher unwahrscheinlich.
Sollte Letta stürzen, stürzt er vermutlich nicht wegen der Ruby-Affäre, sondern wegen anderer Turbulenzen.
Berlusconi wird Berufung einlegen. Dann beginnt alles von Neuem: neue Einsprachen, neue Verzögerungstaktiken, neue Abhörprotokolle, neue Zeugenbefragungen. Es wird viele Monate dauern, bis ein zweitinstanzliches Urteil gefällt werden wird.
Der Ruby-Prozess ist nicht der einzige, der Berlusconi zu schaffen macht. Schlimmer ist ein Prozess, bei dem es um Steuerbetrug seines Medienkonzerns Mediaset geht. Letzte Woche hatte das italienische Verfassungsgericht einen Rekurs abgelehnt. Mit diesem hatte Berlusconi versucht, eine endgültige Verurteilung wegen Steuerbetrugs zu verhindern. Bald wird das Kassationsgericht, das höchste italienische Gericht, sein Urteil sprechen. Und da sieht es schlecht aus für Berlusconi.