Die Wogen der Entrüstung, ja der Abscheu schlagen hoch. «Ich ertrage es nicht», schreibt Jo Lendle in einem offenen Brief in der gewiss nicht boulevardverdächtigen ZEIT online, von Grenzüberschreitung spricht Sandra Kegel in der nicht minder seriösen FAZ, «Menschenverachtung» nennt es Richard Kämmerlings in der Welt, von der «Trägheit ihres Geistes» redet Sibylle Berg im Spiegel, vom «Tonfall hetzerischer Antimoderne» Ingo Arend in der taz. Dirk Pilz in der Berliner Zeitung wirft ihr «Selbstvergöttlichung» vor – und Robert Koall, der Chefdramaturg des Staatsschauspiels Dresden, wo Lewitscharoff ihre Rede am 2. März 2014 gehalten hatte, fühlte sich bemüssigt, ihr in einem offenen Brief ins Gewissen zu reden.
Unkorrekt, lieblos, verständnislos
Und sie alle beziehen sich immer auf dieselben Stellen: die «abartigen Wege» der künstlichen Fortpflanzung, die «Halbwesen und künstlichen Weissnichtwas», die daraus entstehen, das «Fortpflanzungsgemurkse» und das «weise Onanieverbot». Und manchmal auch den Vergleich mit den «Kopulationsheimen» im Nationalsozialismus als «harmlose Übungsspiele».
Das ist alles unglaublich politisch unkorrekt und vor allem ebenso unglaublich lieblos und verständnislos ausgedrückt. Von einer Schriftstellerin sollte man zudem erwarten können, dass sie sich der Macht und der Eigendynamik des gesprochenen – und dann geschriebenen – Wortes bewusst ist. Sie hätte wissen müssen, welches Eigenleben diese Formulierungen erhalten würden.
Früh und schrecklich erfahrene Sterblichkeit
Aber hat denn jemand die ganze Rede gehört und gelesen? Hat jemand die schonungslosen Worte zum entsetzlichen Selbstmord ihres wohl manisch-depressiven Vaters und die bodenlos traurigen Worte zum Leben und Sterben ihrer medikamenten- und alkoholsüchtigen Mutter gelesen? Die sehnsüchtigen Worte zum Tod ihrer geliebten und verehrten gläubigen Grossmutter und die bitteren Worte zum Tod der eng vertrauten älteren Freundin?
Mich überwältigt dabei die Stimme des einsamen und verängstigten Kindes in diesem Text, das die Sterblichkeit des Menschen so früh und auf so schreckliche Weise erfahren musste. Kein Wunder, ist für Lewitscharoff das Leben «als eine uns gestellte, und, wie mir scheinen will, gewissermassen selbst gewählte schwere und strenge Aufgabe zu betrachten, welche mit Standhaftigkeit und Treue durchzuhalten uns unbedingt obliegt» – so zitiert Lewitscharoff Thomas Mann, der ihr damit «aus der Seele spricht» – und bei dem die Illusion, der Mensch hätte irgendetwas davon in der Hand, geradezu frevelhaft erscheint.
Wieso sollte der Mensch also menschliche Wesen in ein solches Leben hineinzwingen? Was anderes als die Hybris eines Machbarkeitswahns kann man darin sehen? Und was Wunder, dass sich Lewitscharoff mit Kindern schwertut und nicht verstehen kann, wie Männer und Frauen bereit sind, alles zu tun, um Kinder zu kriegen?
Gescheitert am Leben und am Sterben
Lewitscharoff hat ohne Sinn für die Wirkung ihrer Worte unabgewogen und unreflektiert unzählige Kinder, Väter und Mütter zutiefst verletzt. Und dennoch kann ich nicht einstimmen in den Chor derer, die sie verklagen, verurteilen, verdammen. Zu deutlich höre ich in ihrer Rede das verletzte und heimatlose Kind, das nach der «liederlichen Aufführung» seines Vaters, der die Aufgabe des Lebens nicht standhaft und treu erfüllt hatte, erleben musste, wie auch bessere Menschen an der Aufgabe des Sterbens scheiterten. Zu scharf klingt darin die Anklage an Glaube und Kirche, nur in Ausnahmefällen ein liebevolles Leben und ein gelassenes Sterben lehren zu können.
Zu Recht haben sich auf diese ungeschützte Rede Lewitscharoffs hin viele mit Hingabe und Pathos vor ihre künstlich gezeugten Neffen und Nichten, Söhne und Töchter geworfen. Mich bewegt dennoch nach der Lektüre nicht in erster Linie Wut und Entrüstung. Sondern das erschreckte Staunen über diese ungeschminkte Darstellung der menschlichen Kreatürlichkeit. Die Frage, wie wir in solchen Lebens- und Sterbensgeschichten bestehen können. Und das Bedürfnis, diese Frau in die Arme zu nehmen.
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Christina Aus der Au ist Privatdozentin für Systematische Theologie an der Universität Basel, Theologische Geschäftsführerin am Zentrum für Kirchenentwicklung (Universität Zürich), verheiratet und Mutter einer bald 6-jährigen Tochter.