Shabnam kann sich noch an den Tag erinnern – es war der 29.April 2006. Jugnu (spr. ‚Dschugnu‘) setzte sich ihr zu Füssen, und begann, ihre Füsse zu massieren. „Das tat er immer, wenn er etwas von mir wollte“. Diesmal war es die Schule. Am Tag zuvor war der Bau des Gebäudes abgeschlossen worden, und nun würde es darum gehen, sie mit Leben zu füllen – Lehrer anstellen, Anmeldungen für Schulkinder entgegennehmen, die staatlichen Bewilligungen einholen. „Ich kann eine Schule bauen, ich kann sie nicht führen“, sagte ihr Mann. „Das musst Du tun“.
Helfer nicht willkommen
Shabnam weigerte sich. Sie hatte genug zu tun mit ihrer Arbeit. Die Beiden waren fünf Jahre zuvor von Delhi nach Katna gekommen. Beide hatten dort Eliteschulen besucht, er wurde Dokumentarfilmer, sie gründete eine NGO fuer Strassenkinder, ‚Street Survivors India‘. Aber sie wussten, dass die grosse Herausforderungen ihres Lebens ausserhalb der Grosstadt lagen, in der Armut und Rückständigkeit von Indiens Dörfern. Sie beschlossen, nach Katna zu ziehen, Shabnams Heimatdorf im Nordostzipfel von Indien, nahe der Grenze zu Bangladesh.
Wenn sie geglaubt hatten, sie würden mit offenen Armen empfangen, täuschten sie sich. Sie brachten Unruhe ins Dorf, sie störten die lokalen Machtstrukturen, geprägt von der Kontrolle durch die Kommunistische Partei, die die wichtigsten Posten – Lehrer, Dorfrat – beherrschte. Dasselbe galt für Shabnams Familie, eine zerstrittene Sippe, mit engen Verbindungen zur KP und zum Mullah. Das Netzwerk von Partei, Familie, Klerus sorgte dafür, dass staatliche Hilfsgelder abgezweigt wurden, dass häusliche Gewalt stillschweigend geduldet wurden, dass die Schule dazu da war, Saläre zu zahlen statt Unterricht zu erteilen.
Als sie eine eigene Schule errichten wollten, kam der erste Warnschuss: eine Bombe explodierte vor ihrem Haus, Jugnu und Shabnam wurden verletzt, ihr Haus halb zerstört. Sie gingen nicht zur Polizei, und sie gaben nicht nach. Als sich nach einigen Wochen einer der Attentäter, ein landloser Dorfbauer (und bei ihrem Onkel hochverschuldet) aus Reue vor Shabnam auf den Boden warf, stellte sie ihn als Chauffeur ein. Ihr Haus wurde zu einem Fluchtort für Frauen, die von ihren Ehemännern aus dem Haus geworfen oder mit den Kindern stehengelassen wurden. Sie ging zur Polizei, vor Gericht, erkämpfte Fürsorgeleistungen, führte zerstrittene Ehepaare wieder zusammen, argumentierte mit den Mullahs. Trotz Widerstands der KP ernannte der Bezirksverwalter sie zu einer Art Friedensrichterin.
Nun stand die Schule vor der Eröffnung, doch Shabnam wollte ihre Frauengruppe – ‚Stree Shakti‘, ‚Frauenkraft‘ – nicht aufgeben. Jugnu liess nicht locker, und beim Massieren der Füsse wurde auch ihr Widerstand immer weicher. Schliesslich willigte sie ein, „wenn Du mir diesen Sommer eine gemeinsame Ferienreise bezahlst“. Drei Tage später war Jugnu tot. Die offizielle Todesursache war Herzversagen. Doch sie wusste, was dazu geführt hatte: Ihr Mann war vergiftet worden. Und sie wusste auch, wer die Tat begangen hatte - der Bruder ihrer Mutter, die ihrerseits die Tochter verstossen hatte, als sie ins Dorf gezogen war, und eine Mitwisserin der Tat war. Als Letztes hatte Jugnu noch das Schul-Logo gezeichnet – eine Taube im Flug - mit dem lateinischen Wahlspruch ‘Fortitudine Vincimus‘
Statt eine Mordklage zu deponieren, fuhr Shabnam mit der Leiche nach Delhi, um sie dort zu kremieren und die Asche, gemäss Jugnus Wunsch, in die Winde zu zerstreuen. Soweit war Alles nach Plan der Giftmischer gegangen, und nun würde sie dem Dorf den Rücken kehren und mit den beiden Kindern in Delhi bleiben. Doch Shabnam kehrte zurück, übernahm die Jagriti-Schule, als wäre nichts gewesen als ein bedauernswerter Todesfall in der Familie. Es begann mit fünf Klassen, dann acht, und vom nächsten Schuljahr beginnt die Oberstufe; Jagriti zählt heute 340 Schüler. Statt die öffentlichen Schulen zu konkurrenzieren, richtete Shabnam in umliegenden Dörfern ‚Study Centres‘ ein, wo Dorfschüler Nachhilfeunterricht bekommen. Ihre Arbeit mit ‚Stree Shakti‘ zwang sie, in einem Stock des Schulgebäudes so etwas wie einen Fluchtort für Frauen namedns ‚Dimini‘ – Fürsorge - einzurichten.
Mit "Katna" zu einer neuen wirtschaftlichen Basis
Sie sah bald, dass dies nicht genügte. Verstossen, verwitwet oder auf der Flucht vor Gewalt brauchten diese eine Chance, ihren Lebensunterhalt und den ihrer Kinder zu bestreiten. Shabnam verfiel auf die Idee, die alte lokale Tradition der Herstellung von ‚Kantha‘-Tüchern neu zu beleben. Es ist eine ‚arte povera‘, das Übereinanderlegen von alten ausgetragenen Saristoffen mit weichem durchsichtigem Musselin, der die verschlissenen Stellen verschwinden und die schoenen Muster und Farben durchscheinen lässt. Zusammengehalten werden die zwei oder drei Lagen durch das Besticken geometrischer Muster oder Lauf- und Kreuzstiche mit farbigen Fäden. Kantha ist eines dieser kleinen Wunder Indiens, das die trübe Landschaft der Armut in leuchtende Farben hüllt.
Shabnam verkaufte die Kanthas an ihre Freunde in Delhi und Kalkutta, sie packte sie in Ballen und fuhr damit an NGO-Bazaars in die Grossstädte. Mütter von Schulkindern wurden auf die Arbeiten von der aufmerksam, begannen ebenfalls zu Hause Kanthas zu verfertigen. Shabnam musste den Kauf von Stoffen und Garn an die Hand nehmen, Ausbildungskurse veranstalten, sie lud Designer nach Katna ein, um den Frauen neue Muster zu zeigen. Heute sind 1440 Frauen aus rund 65 Dörfern Mitglieder einer NGO. Sie sind Mitglieder in mehr als einem Sinn. Seit einigen Monaten ist jede von ihnen Mitinhaberin von ‚Katna’s Kantha Pvt.Ltd.‘. Die Firma agiert auch wie eine Bankkooperative, bei der die Aktionärinnen Kleinkredite aufnehmen können, sei es, um eine Nähmaschine zu kaufen, die Hochzeit der Tochter auszurichten, oder Geld für Arzt und Medikamente zu haben.
Letzten November erhielt ‚Street Survivors India‘ in Delhi einen Preis fuer ihre innovative Tätigkeit. Es war das erste Mal, dass die breitere Öffentlichkeit von Shabnam Ramaswamy hörte. In ihrer Rede begnügte sie sich nicht mit Dankesworten: „Ich weiss nicht mehr weiter“, bekannte sie vor den geschockten Zuhörern. „Seit zwei Jahren warte ich auf die Zertifikation der Jagriti-Schule. Ich habe 100‘000 Rupien an Schmiergeldern bezahlen müssen, damit mir die Regierung in Kalkutta die Schule nicht schliesst. Wenn Jemand hier im Auditorium sitzt, der einen heissen Draht nach Kalkutta hat – dann bitte, helfen Sie!“. Ein hoher Regierungsbeamter kam nachher auf sie zu und bot sich an, zu intervenieren.
Vergeben, um weiterarbeiten zu können
Letzte Woche, auf dem Rückweg von einem Besuch in Katna – ihre NGO wird von der ‚Volkart Foundation‘ unterstützt - , begleitete ich Shabnam nach Kalkutta, wo sie vom Erziehungsministerium die ‚High School‘-Lizenz entgegennehmen sollte – die Intervention hatte geholfen. Wir sassen im Zug und ich fragte sie, warum sie die Mörder ihres Mannes nicht vor Gericht gebracht hatte. „Was hätte es genützt?“, fragte sie zurück. „Das Dorf, meine Familie, die Mordkomplizen wären mir für den Rest des Lebens mit Hass begegnet. Ich wusste, wenn ich hier bleiben wollte, weiterarbeiten wollte, musste ich ihnen vergeben. Es fiel mir weniger schwer, als ich geglaubt hatte; vielleicht, weil Jugnu genauso gehandelt hätte“.