Anna Netrebko setzt nun als «Tosca» den Schlusspunkt. Am 31. August springt sie ein letztes Mal von der Engelsburg, dann ist Feierabend. Nicht einmal als Fernsehaufzeichnung wird es diese «Tosca» geben, weil Frau Netrebko im letzten Moment «njet» gesagt hat. Die Primadonna sei stimmlich nicht ganz auf der Höhe, wird gemunkelt, und bei der Premiere gab es neben höflichem Applaus auch Buhs. Für Anna Netrebko etwas sehr Ungewohntes. Naja … dann halt keine TV-Aufzeichnung, keine CD. Frau Netrebko kann sich das leisten – vorläufig noch.
Mit einer Fülle von Veranstaltungen, mit Konzerten, Opern, Vorträgen, Ausstellungen etc. etc. hat man sechs Wochen lang ein rundes Jubiläum gefeiert: 100 Jahre Salzburger Festspiele. Eigentlich ist das gemogelt, denn all dies wäre letztes Jahr fällig gewesen. Aber eben … letztes Jahr hiess das Programm «Corona» und es gab nur eine stark verkürze Not-Version der Festspiele, mit viel Luft im Zuschauerraum und wenig Publikum. Diesen Sommer dagegen wurde wieder aus dem Vollen geschöpft: 163 Aufführungen an 46 Tagen, mit insgesamt 227’062 Besucherinnen und Besuchern aus 71 Nationen. Die Platzausauslastung betrug damit 91 Prozent.
Rigorose Sicherheitskontrollen
Dieses Jahr war also fast alles wie immer, die Kontrollen wurden allerdings rigoros durchgezogen. Am Eingang musste man sein personalisiertes Ticket vorweisen. Dies wurde mit dem Personalausweis verglichen, ebenso mit dem Covid-Zertifikat. Zu diesem Zeitpunkt musste man – an der Schwelle zum Eingang – bereits eine FFP2-Maske tragen bis zum Verlassen des Hauses. Erstaunlicherweise funktionierte dies besser als befürchtet, niemand murrte. Ausserdem stand ein Impfbus bereit, gleich gegenüber vom Festspielhaus. Die Nachfrage war gross …
Die schwierigen Verhältnisse, unter denen die Festspiele dieses Jahr durchgeführt wurden, waren durchaus passend für die Rückschau auf hundert Jahre. Die Festspiele wurden ins Leben gerufen, als der erste Weltkrieg gerade zu Ende war, als Not und Armut herrschten und auch politisch viel Radikalität aufkam. Im Mittelpunkt stand damals der Gedanke von Versöhnung und Frieden. Die Kraft des Geistes und Kreativität sollten das Verbindende zwischen Menschen unterschiedlicher Nationalität, Identität, Religion und ethnischer Zugehörigkeit sein. Max Reinhardt, Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss gelten als Gründungsväter.
Wie alles angefangen hat
Am 22. August 1920 fand auf dem Domplatz die erste Vorstellung des «Jedermann» von Hugo von Hofmannsthal in der Regie von Max Reinhardt statt. Was fast auch wieder wie eine Notlösung aussah. Jahrelang hatte man nun schon über ein Mozartfest in der Mozartstadt diskutiert, dann wurde das Festspiel mit einem Sprech-Theaterstück eröffnet, dazu im Freien auf dem Domplatz, weil kein angemessenes Theater zur Verfügung stand.
Und wirklich neu war der «Jedermann» auch nicht: Neun Jahre zuvor war «Jedermann» schon in Berlin uraufgeführt worden, ebenfalls unter der Leitung von Max Reinhardt. Nichtsdestotrotz wurde «Jedermann» von da an zum Aushängeschild für Salzburg.
In der Hofstallgasse entstanden die Festspielhäuser, allen voran die einmalige und beeindruckende Felsenreitschule mit ihren in den Felsen geschlagenen Arkaden, aber auch das grosse Festspielhaus, das Haus für Mozart und auf der anderen Salzachseite das Mozarteum. Immer mehr Spielstätten rundeten schliesslich den Rahmen für die immer grösser werdenden Salzburger Festspiele ab. Die berühmtesten Dirigenten kamen nach Salzburg und prägten die Festspiele, so auch Arturo Toscanini, der Salzburg allerdings 1938 verliess, da die Nationalsozialisten immer mehr an Macht gewannen. Stattdessen gab er in Luzern ein Galakonzert vor dem Wagner-Haus in Tribschen. Ein Konzert, das als Gründungs-Konzert der damaligen Musikfestwochen gilt, die heute Lucerne Festival heissen.
Nach dem zweiten Weltkrieg war Herbert von Karajan eine der ganz grossen Figuren der Salzburger Festspiele. Glanz und Glamour, grosse Namen aus Kultur, Politik und Gesellschaft prägten Salzburg als kulturellen Mittelpunkt. Der Dirigent aber, der am längsten in Salzburg auftritt, ist Riccardo Muti, der seinerseits dieses Jahr ebenfalls ein Jubiläum feiern kann: seit 50 Jahren dirigiert er in Salzburg und gleichzeitig feiert er seinen 80. Geburtstag.
Schliesslich gibt es in diesem Jubiläumsjahr noch ein weiteres Ereignis zu feiern: Helga Rabl-Stadler, die Präsidentin der Festspiele, allgegenwärtig, das Rückgrat des Unternehmens, der Fels in der Brandung, diese Helga Rabl-Stalder hat die Festspiele 25 Jahre geleitet. Nun tritt sie ab und wie man hört, sollen ausschliesslich Frauen als Kandidatinnen für die Rabl-Stadler-Nachfolge zur Verfügung stehen.
Grosse Namen
Salzburg ist aber auch Sprungbrett für viele Sängerinnen, Musikerinnen und Dirigentinnen und deren männliche Pendants. Wer es in Salzburg geschafft hat … hat es geschafft. Anna Netrebko zum Beispiel. 2002 sang sie unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt die Donna Anna im «Don Giovanni» … das war ihr grosser Durchbruch. Ähnlich könnte es dieses Jahr einer anderen russischen Sängerin ergehen, die ebenfalls als Donna Anna für Aufsehen sorgte: Nadezhda Pavlova in der Neuinszenierung des «Don Giovanni» unter der Leitung von Teodor Currentzis.
Teodor Currentzis und sein Orchester musicAeterna haben mittlerweile Kultstatus in Salzburg und Currentzis hat schon fast ein Monopol auf Mozart in der Mozartstadt. Diesmal also «Don Giovanni» in einer Inszenierung voller rätselhafter Anspielungen, mit 150 Damen aus Salzburg auf der Bühne, mit zwei weisen Pudeln und einem Ziegenbock (Sündenbock?), mit seinem Orchester musicAeterna, und mit der wunderbaren Nadezhda Pavlova.
Natürlich polarisiert Currentzis. Zum Glück, möchte man sagen, denn so bleibt es spannend zwischen Für und Wider, bei der Kritik und beim Publikum. «Don Giovanni» war jedenfalls die meistdiskutierte Aufführung in Salzburg, zwischen Jubel und tosendem Applaus und mäkelnder Ablehnung.
Lob erhielt Franz Welser-Möst, der während vieler Jahre in Zürich Generalmusikdirektor war und unzählige Abende im Orchestergraben des Opernhauses verbracht hat. In Salzburg dirigierte er «Elektra» von Richard Strauss.
Ganz anders, aber nicht minder erfolgreich in diesem Jahr: «Trionfo del Tempo» von Georg Friedrich Händel mit Cecilia Bartoli und der Schweizer Sopranistin Regula Mühlemann.
Frauenpower und Schaulaufen
Beim Schauspiel standen dieses Jahr eindeutig die Frauen im Vordergrund. In Schillers «Maria Stuart» rivalisierte die Schottenkönigin mit Elisabeth von England. Männer waren hier nur Kulisse in Form von nackter und höchst lebendiger Herren-Rückansichten. «Richard der Dritte» wurde als «Richard the kid & the king» von einer Frau gespielt und von einer Frau inszeniert. Diskussionen gab es im Publikum auch wegen der «Buhlschaft» im «Jedermann». Das war keine Beauty mit langem Haar und grosser Robe, das war diesmal eine junge Frau mit millimeterkurzem Haarschnitt, und «Jedermann» sah auch nicht aus wie Curd Jürgens ehedem. Richtig so: damit dieses zeitlose Thema um die Vergänglichkeit des Menschen zeitlos bleibt, braucht es genau die Anpassung an die heutige Zeit.
Was in Salzburg seit eh und je dazugehört, ist das Schaulaufen der Promis vor einer Premiere. Da fahren sie vor in glänzenden schwarzen Limousinen (auch mit Schweizer Kennzeichen): die Schönen und die Reichen, die Wichtigen und die Möchtegerns … Fotografen und Fernsehkameras allzeit bereit, die Polizei sperrt ab, und die Gaffer bekommen ihre Gratis-Show. Sie dürfen von der anderen Strassenseite zuschauen.
Und jetzt heisst’s «Servus». Bis nächstes Jahr.
In Salzburg getroffen:
Ausrine Stundyte sang die «Elektra», stammt aus Litauen und brillierte am Zürcher Opernhaus in Prokofiews «Feuriger Engel».
«Nach dem Lockdown hatte man gerade als Sängerin das Gefühl für den Saal verloren, die Menschen im Saal zu spüren, man musste sich energetisch erst wieder aufpushen, das war recht schwierig.»
Salzburger Festspiele
«Ich spüre, dass in Salzburg die Anforderungen und Erwartungen viel grösser sind. Der Anspruch auf Perfektion ist höher als anderswo.»
Franz Welser-Möst
«Die Art, wie er gearbeitet hat, war phänomenal Ich habe noch nie mit einem Dirigenten so gearbeitet wie mit ihm. Jede Note hatte ihre Bedeutung. Manchmal haben wir 15 Minuten mit einem einigen Takt verbracht. Er hat so einen grossen Topf von Ideen.»
«Elektra»
«Ich glaube, man muss nicht unbedingt mit dem verschmelzen, was man darstellt. Bei dieser Intensität von Elektra ist das zerstörerisch. Ich muss wach sein und aufgeladen, aber ich muss nicht den Hass spüren. Man muss Hass verstehen, aber nicht ausleben.»
Zwischen den Vorstellungen
«Ich liebe die Natur und wohne ausserhalb von Salzburg und bin gern am See und im Wald.»
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Bettina Stucky spielte in «Richard the kid & the king». Schweizer Schauspielerin, lebt in Hamburg und hat viel mit Christoph Marthaler gearbeitet.
«Es ist natürlich eine Ehre, in Salzburg aufzutreten. Aber wir sind auf der Perner-Insel in Hallein. Dort ist es total familiär, wie im Dorf.»
Salzburger Festspiele
«Die Wiener Festwochen waren auch immer sehr gross, aber Salzburg hat mehr Klimbim. In der Bunten und in der Gala wird über den Promi-Aufmarsch berichtet. Das gibt es in Deutschland nicht und in der Schweiz erst recht nicht. In Hallein ist dieses Krüsimüsi zum Glück weniger der Fall.»
«Richard the kid & the king»
«Ja, es ist brutal, das ist immer so bei Richard dem Dritten. Die Regisseurin Karin Henkel hat Corona extrem ernst genommen. Wir haben immer nach ‘Übersetzungen’ gesucht, wie man jemanden abmurxen und trotzdem den Abstand wahren kann, ohne eine Maske zu tragen. Es hiess also, den Mord in der Aufführung so zu übersetzen, dass er auf grössere Distanz funktioniert. Das ist der Unterschied.»
Länge der Aufführung
«Es hätten zwei Teile werden sollen, auf 2020 und ’21 verteilt. Wegen Corona ist nun ein Abend daraus geworden. Es sind über 3½ Stunden. Das ist nicht un-anstrengend …»