Der Freispruch von Sepp Blatter hat im Oberwallis Jubel und Befriedigung ausgelöst. Er sei von der Welt-Öffentlichkeit (vor-)verurteilt worden – für etwas, das vielleicht übertrieben war, aber innerhalb des legalen Rahmens.
Die beiden Freundinnen sassen, nach einer Bergtour im Simplon-Gebiet, im Postauto, als sie auf dem Monitor die Nachricht lasen: Sepp Blatter und Michel Platini waren im Korruptionsprozess vor dem Bundes-Strafgericht in Bellinzona freigesprochen worden.
Applaus im «Walliser Boten» und bei «Radio Rotten»
Für die beiden war wie für Tausende von Schweizern und von Fussballfreunden weltweit sofort klar: Einmal mehr hatte das System Blatter – Mauscheleien, Geldflüsse, Begünstigungen – zugeschlagen. Doch ist dies plausibel? Das Oberste Strafgericht der Schweiz bestochen? Es ist, man muss es zugeben, eine Verschwörungstheorie. Und es ist leider so, dass solche Gespinste inzwischen auch bei uns liberalen Weltbürgern zur Instinktreaktion gehören.
Es ist auch eine Reaktion, die wohl für die meisten meiner Oberwalliser Mitbürger nicht zutrifft. Als ich am Samstag den «Walliser Boten» aufschlug, war es für dessen Leitartikler sonnenklar, dass Blatter und Platini unschuldig sind und dass das Gericht dies endlich klarstellte. Was zählte, war daher nicht nur die Unschuldsvermutung des Gerichts. Fast noch schwerer wog das Schmerzensgeld, das es den beiden zusprach, als Wiedergutmachung für den Verlust des Leumunds, den sie über die Jahre eingebüsst haben.
Der zweite Medienkanal, der im Oberwallis die Stimme des Volkes aufspürt und wiedergibt, ging noch weiter. «Radio Rotten» begab sich ins Restaurant von Blatters Schwiegersohn. (Rotten ist der Name, den das Lokaldeutsch der Rhone, dem «ältesten Walliser», gibt). Dort hatte sich dessen Fanclub versammelt, um wie bei einem Champions League-Final dabei zu sein und zu jubeln, wenn das entscheidende Tor – die Urteilsverkündung – fiel.
Die konträre Reaktion auf unsere Political Correctness machte mich neugierig, mich in meinem Umfeld von Bekannten und Verwandten ein bisschen umzuhören. «Vergiss nicht, dass die FIFA ein Verein ist», erklärte mir ein entfernter Vetter, der in seinen jungen Jahren Freizeitfussballer gewesen war und sogar eine Schiedsrichter-Ausbildung gemacht hatte. «Wenn ein Vereinsvorstand einen Entschluss fällt, ist dies eben rechtsgültig, ob es nun um die Teilnahme an einem Musikfest geht oder um eine Spesenentschädigung in Millionenhöhe.»
«Mitmänsch Oberwallis»
Sepp Blatter sei ein Mann, der in einem dörflichen Umfeld aufgewachsen war, in dem Vereine – der Gesangverein und die «Pfeifer&Tambouren», der Jagd- oder Fischerverein, die Lonza-Senioren und die Schäfer-Zunft – ein wichtiges Beziehungsnetz des sozialen Alltags sind. Sie sind der Marketing-Kanal der lokalen Handwerker ebenso wie die Support-Plattform der Frauen, der Verknüpfungspunkt für persönliche Freundschaften, und für Jungen und Mädchen die Schule zur Erlernung ihrer Sozialisationsriten.
Plötzlich verstand ich, warum zum Beispiel im «Walliser Bote» so viele Traueranzeigen erscheinen (und warum mir ein Cousin einmal gesagt hatte, er abonniere die Zeitung nur wegen der Trauerzirkulare darin). Nicht nur die Trauerfamilie von D. S. schaltete am Samstag eine Annonce, auch die Organisation «Mitmänsch Oberwallis» tat es, der «Skiclub Erschmatt» und der «Aqua Club Leukerbad». Ähnliches gilt für die Werbespots im Radio Rotten. Die Schreiner aus Münster, das Sport-Café in Visp und die Auto-Garage in Agarn betonen nicht nur ihren hervorragenden Service. In breitestem Lokal-Walliserisch betonen sie ihre lokale Verbundenheit, quasi als Gütesiegel für die ganze Region.
Sepp Blatter ist der Mann, der den lokalen Appeal zum Erfolgsmodell für die «Region Welt» gemacht hat. Er sei, so mein Gewährsmann, in diesen Beziehungs- und Einflussnetzen grossgeworden. Er wusste, wie man sich mithilfe dieser sozialen Organisationsform Gunst und Einfluss verschaffte. Was ihn dabei auszeichne, sei sein phänomenales Namens- und Gesichtergedächtnis, gepaart mit einem Naturell, das im sozialen Kontakt aufblüht.
Nachbarn im Maiensäss
Als ich eine Cou-Cousine, die ehemalige Lehrerin H., darauf ansprach, konnte sie dies nur bestätigen. Sie hätten in der Schule einmal ein Fussball-Turnier unter verschiedenen Sekundarschulen organisiert, erzählte sie mir. Für die Preisverleihung seien sie – mehr als Jux – auf die Idee gekommen, den damaligen FIFA-Präsidenten einzuladen. Sie seien fast erschrocken, als Blatter zusagte. Und als er kam, erlebte sie es als das Selbstverständlichste der Welt.
«Als ich ihn begrüsste und ihm meinen Namen nannte, fragte er, was mein Mädchennname gewesen sei. Ich sagte es ihm, und sofort purzelte es aus ihm heraus: Jaja, er kenne meine Familie. In seiner Jugend seien unsere Familien im gleichen Maiensäss Nachbarn gewesen, in dem sie jeweils den Sommer verbrachten. Und er zählte gleich mehrere Namen von Grosstanten und -onkeln auf, die er gekannt habe. Als ich später meine Mutter darauf ansprach, bestätigte sie deren Richtigkeit.»
H.s Ehemann mischte sich in unser Gespräch ein und erzählte, Jean-Paul Brigger – ein ehemaliger Walliser Fussball-Nationalspieler – habe ihm einmal erzählt, dass er Sepp Blatter auf einigen seiner Reisen begleitet habe (Brigger selber übte für kurze Zeit einen belanglosen FIFA-Job aus, den ihm – «natürlich!» – Blatter zugeschanzt hatte).
Bevor Blatter irgendeinen afrikanischen Potentaten getroffen habe, habe er sich minutiös vorbereitet und über alle Details von dessen familiärem Umfeld kundig gemacht. Bei der Unterredung sei dann kaum über Fussball gesprochen worden. Es ging über den beruflichen Werdegang der Nichte des «Président de la République» oder das Wohlergehen von dessen Gattin(nen). Es habe ihn, Brigger, schon bald nicht mehr gewundert, warum bei jeder Landung der Rote Teppich ausgelegt wurde, als sei Blatter ein Staatschef.
Dorfpolitik im Weltmasstab
«Auf seine Art ist Blatter ein ehrlicher Mann», meinte R. Er habe eben die Dorfpolitik betrieben, die er seit seiner Jugend kannte – nur im Welt- und Millionen-Massstab. Plötzlich wunderte ich mich nicht mehr, warum in Visp das älteste Schulhaus «Josef Blatter-Schule» heisst. Und dass es sich gehört, für einen Mann, der in einem honorigen Klientelwesen grossgeworden ist, den Geldregen seiner Sepp Blatter Foundation nun über die Welt, und natürlich auch das Oberwallis, niedergehen zu lassen.
Von einem anderen Verwandten erfuhr ich auch, dass ein gemeinsamer Bekannter der Oberstufen-Lehrer von Gianni Infantino gewesen war. Nun, da das Oberwallis zur Brutstätte mächtiger Fussball-Funktionäre geworden ist, konnte ich mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen, meine vornehme Nachbarschaft nach weiteren «Nuggets» abzuklopfen. Immerhin ist Infantino wohl die einzige Person, die von der Anklage gegen Blatter und Platini am meisten profitiert hatte. Er wurde Platinis Nachfolger als UEFA-Generalsekretär und, als Blatter aus der FIFA gejagt wurde, dessen Nachfolger als Präsident. Eine Verurteilung Platinis – einem möglichen FIFA-Präsidentschaftskandidaten – hätte Infantino den Weg für eine dritte Amtsperiode «per Akklamation» freigemacht.
Gianni und das «Little Italy» von Naters
Gianni sei ein intelligenter, aber etwas verschlossener Schüler gewesen, sagte mir dessen Lehrer. Das habe wohl mit seiner Herkunft zu tun gehabt. Er war zwar schon in dritter Generation Schweizer (und Walliser), aber für ihn habe nur seine Verbindung zu Italien gezählt. Gianni war im «Little Italy» von Naters aufgewachsen, wo vor hundert Jahren die italienischen Arbeiter beim Bau des Simplon-Eisenbahntunnels gewohnt hatten.
Das kleine Quartier um das Café Venezia liegt am Rand der Gemeinde, auf der anderen Talseite und in Sichtweite der schwarzen Löcher der beiden Tunnelröhren. Dazwischen liegt das Sportgelände. Gianni habe seines Wissens nicht in der Schüler-Mannschaft gespielt, sagt R. Wenn die Schule aber ihr jährliches Fussballturnier mit Jugendmannschaften verschiedener Nachbarländer organisierte, war der junge Infantino immer als Betreuer der Italiener zur Stelle.
Gianni habe sich dabei äusserst stark für diese eingesetzt. Er erinnere sich an ein Jahr, als die italienische Mannschaft wegen eines Fehlurteils des Schiedsrichters aus dem Turnier geworfen wurde. Infantino legte bei den Organisatoren – seiner eigenen Schule – Protest ein. Als dieser abgewiesen wurde, habe der junge Mann juristische Schritte unternehmen wollen, um seinen Schützlingen von «ännet dem Simplon» zum Recht zu verhelfen. «Kein Wunder, dass er später Rechtsanwalt wurde – und Sport-Funktionär!»
Zurück ins Oberwallis?
Aber auch Gianni Infantino ist ein «Natischer» wie Blatter. Er schickte seine Töchter in Brig zur Schule, als er in der Westschweiz bei der UEFA anheuerte. Und er lässt es sich nicht nehmen, von Zürich aus in ein Walliser Dorf zu kommen, um bei einem Grümpel-Turnier den Sieger-Pokal zu verleihen. Doch einen Fan-Klub wird es für ihn wohl keinen geben. Was den Blatter-Klub angeht, fordern ihn seine Mitglieder nun auf, den Wohnort in Zürich ganz aufzugeben und endlich zurück zu kommen – «zu iisch».