In Kiew schwirren die Gerüchte über eine unmittelbar bevorstehende Entlassung des populären Armeechefs Saluschni durch Präsident Selenskyj. Zwischen den beiden wichtigsten Führern des ukrainischen Verteidigungskampfes gibt es offenbar erhebliche Spannungen. Doch Selenskyj würde sich selber und dem Land einen Bärendienst leisten, wenn er Saluschni in die Wüste schickte. Im Kreml würde man sich die Hände reiben.
Mindestens seit dem vergangenen November gibt es Anzeichen, dass die Beziehungen zwischen dem ukrainischen Präsidenten und dem obersten Militärführer, Waleri Saluschni, nicht harmonisch sind. Damals hatte Saluschni in einem längeren Beitrag für den britischen «Economist» durchblicken lassen, dass die vielbeschworene ukrainische Frühjahrsoffensive gegen die russischen Invasoren ihre Ziele verfehlt hat und die Fronten in einem Stellungskrieg erstarrt sind. Die ukrainische Armee benötige teilweise ein strategisches Umdenken. Der Schwerpunkt im Kampf gegen die russischen Angreifer sollte auf die Produktion und den massenhaften Einsatz von elektronisch gesteuerten Offensivkräften wie Drohnen verlegt werden.
Saluschnis Stellungnahmen in westlichen Medien
Selenskyj war offenbar von solchen Äusserungen seines Armee-Chefs in einer ausländischen Publikation nicht angetan. Er reagierte ungnädig und sagte, dass er einen festgefahrenen Stellungskrieg nicht erkennen könne. Schon im November gab es Gerüchte in Kiew, dass Saluschni entlassen werden könnte. Doch am Montag schossen die Spekulationen noch höher ins Kraut. Verschiedene ukrainische und ausländische Medien meldeten, dass die Absetzung des Armee-Chefs praktisch beschlossen sei und darüber unmittelbar informiert werde. Selenskyjs Sprecher reagierte darauf nur wortkarg und sagte «Es gab keine Entlassung» – was ja offenlässt, dass es in nächster Zeit zu einer solchen Entscheidung kommt.
Nun hat der amerikanische Fernsehsender CNN vor kurzem einen weiteren Text von Saluschni veröffentlicht, in dem der ukrainische Armee-Chef erneut seine Ansichten zum Krieg gegen die russischen Angreifer und seine Empfehlungen für die Fortsetzung dieses Kampfes formuliert. Wesentlich neue Elemente gegenüber seinen Äusserungen im «Economist» sind darin nicht zu erkennen. Wiederum plädiert Saluschni mit Nachdruck für einen gezielten Ausbau von Produktion und Einsatz eigener Kampfdrohnen. Dies dränge sich für die Ukraine schon deshalb auf, als die Waffenlieferungen seitens der westlichen Verbündeten ins Stocken geraten seien. Hinzu komme, dass Russland wegen der enttäuschenden Wirkung westlicher Wirtschaftssanktionen weiterhin in der Lage sei, seine militärischen Kapazitäten gegen die Ukraine zu verstärken.
Eine militärische Wunschliste
Das gelte auch für Russlands Möglichkeiten zur Mobilisierung von zusätzlichen Soldaten. Das ukrainische Militär, schreibt Saluschni, habe die Regierung Selenskyj gebeten, weitere 500’000 Soldaten einzuberufen, um die vom langen Einsatz ermüdeten Streitkräfte an der Front auswechseln zu können. Doch im Januar habe das Parlament sich geweigert, ein Gesetz mit diesem Inhalt zu diskutieren, weil eine solche Massnahme in der Öffentlichkeit auf starke Kritik stossen würde.
Wie erwähnt, die Stellungnahme des ukrainischen Oberkommandierenden enthält wenig Überraschendes oder fundamental neue Forderungen für die Fortsetzung des Verteidigungskrieges gegen Russland. Inhaltlich würde im Prinzip wohl auch Selenskyj dieser Wunschliste zustimmen. Nur stellt sich die Frage, wie der Ruf zur Produktion von mehr elektronischen Kampfmitteln und der Mobilisierung von zusätzlichen Soldaten in der von den russischen Angriffen teilweise zerstörten Ukraine in nützlicher Frist umzusetzen wäre.
Auf diese Fragen geht Saluschni nicht weiter ein. Zweifellos muss ihm bewusst sein, dass Selenskyj nicht so unumschränkt wie der De-facto-Diktator Putin agieren kann, der seine Projekte und Entscheidungen allein mittels Befehlsausgabe durchsetzt und dem niemand zu widersprechen wagt. Deshalb fragt man sich auch, wieso der ukrainische Armee-Chef sich zu den Fragen der weiteren Kriegsführung erneut derart prominent in der Öffentlichkeit exponiert – und das erst noch in einem ausländischen Medium. Ein Musterbeispiel für diplomatisches Fingerspitzengefühl und Rücksichtnahme auf eine möglichst enge Kohäsion zwischen Regierung und Militär ist seine Stellungnahme jedenfalls nicht.
Gift für das Vertrauen in den Zusammenhalt der obersten Führung
Aber auch Selenskyjs Reaktion auf die publizistischen Vorstösse Saluschnis zeugen nicht von souveräner Gelassenheit in dieser heiklen Angelegenheit. Der knappe Kommentar seines Sprechers vom Montag, es habe «keine Entlassung gegeben» stellt jedenfalls keine Klärung dar. Laut inoffiziellen Meldungen haben sich Saluschni und Selenskyj an diesem Tag zu einem Gespräch getroffen, über dessen Inhalt aber nicht informiert wurde. Weitere Gerüchte in Kiew wollten wissen, dass Selenskyj den Armee-Chef zum Rücktritt aufgefordert und ihm als Ersatz eine Stelle als Berater oder Botschafter angeboten habe. Saluschni soll eine solche Rochade abgelehnt haben.
Damit scheint die personelle Entscheidung immer noch in der Luft zu hängen. Selenskyj hat es bisher nicht für nötig befunden, der Gerüchteküche die Zufuhr zu entziehen und sich klipp und klar für den Verbleib seines Armee-Chefs auszusprechen – oder diesem ebenso eindeutig sein Vertrauen zu entziehen. Diese Ungewissheit aber ist nach innen und aussen Gift für das Vertrauen in den Zusammenhalt der beiden wichtigsten Führungspersönlichkeiten der Ukraine, die seit zwei Jahren um ihre Existenz als unabhängiges Land kämpft.
Einige Beobachter wollen wissen, Selenskyj sei pikiert darüber, dass sein Armee-Chef im Volk eine höhere Popularität geniesse als er selbst. Man munkelt, dass Saluschni den Ehrgeiz haben könnte, bei der nächsten Präsidentenwahl – deren Zeitpunkt ohnehin in den Sternen steht – gegen den jetzigen Amtsinhaber anzutreten.
Natürlich sind das nur Spekulationen. Doch Selenskyj hätte es als Staatschef von Format in der Hand, solches kleinliche und schädliche Gerede abzustellen, etwaige Differenzen hinter verschlossenen Türen auszuräumen und sich unzweideutig zur Loyalität mit seinem als tüchtig und beliebt geltenden Armee-Chef zu bekennen. Gezänk und Eifersüchteleien auf der obersten Führungsetage ist das Letzte, was die schwer bedrängte Ukraine heute brauchen kann.